Reminiscere, 2.März 1958  Wolfenhausen / Nellingsheim

179,1-5               In dich hab ich gehoffet (128)

263,1-5               Ein reines Herz, Herr (206)

218,1+6              Sonne der Gerechtigkeit (226)

179,7                  In dich hab ich gehoffet (128)

Jes 42,1-8    Joh 12,20-33

 

Liebe Gemeinde!

Wieder einmal, wie das alle drei Jahre geschieht, wollen wir miteinander an den Sonntagen der Passionszeit die Leidensgeschichte unsres Herrn und Heilandes Jesus Christus betrachten, und zwar diesmal in der Gestalt, wie sie uns von dem Evangelisten Johannes überliefert ist. Seht, es ist nicht einfach, diese Leidensgeschichte richtig zu sehen. Nicht, dass dieses Geschehen an sich so völlig unverständlich wäre, dass es so ganz und gar dem Bereich unseres menschlichen Erlebens, unseres Verstehens und Mitfühlens entzogen wäre. Nein! Sehr Vieles, was uns in dieser Leidensgeschichte begegnet, ist uns nur zu gut bekannt: Der tödliche Hass der jüdischen Oberen, die Jesus verfolgen, weil er nicht in ihre politischen Pläne passt. Die Furcht der Jünger, die ihren Herrn verlassen und kläglich auseinander laufen, als es hart auf hart geht. Die Rohheit und Brutalität der Kriegsknechte, die sich aus der Not ihres Mitmenschen noch einen Spaß machen. Die Feigheit des römischen Landpflegers, der selber Dreck am Stecken hat, und der darum sich zu etwas hergeben muss, was er selber nicht für Recht ansieht. Der ohnmächtige Schmerz der Mutter Jesu, die zusehen muss, wie ihr das liebste genommen wird. – Das alles kennen wir genau: Ist es doch wirklich die ganze Menschlichkeit in ihrem so gar nicht imponierendem Wesen, die sich in diesen Gestalten der Leidensgeschichte zeigt; diese Menschlichkeit, die wir alle kennen, die wir an uns selber kennen. Doch, das ist ja nun noch nicht das Richtige: Wenn wir bei unserer Betrachtung der Leidensgeschichte auf diese Menschen blicken, die da mithandeln, und die doch alle miteinander im Grunde nur Nebenfiguren sind: Auch der Römer, der sich als Herr über Leben und Tod vorkommt, und der im Grunde nur ein Getriebener seiner Geldgier und seiner Angst ist. Auch der Hohepriester, der sich als Vertreter Gottes vorkommt, und der doch nur die Interessen einer kleinen Partei vertritt, der es unbequem wäre, wenn die althergebrachte Ordnung des Glaubens von neuem geistlichem Leben hinweg geschwemmt würde. Sie sind alle Nebenfiguren, diese Menschen mit ihrer uns so wohl bekannten Menschlichkeit. Nein! Das wissen wir genau: Wenn wir die Leidensgeschichte miteinander betrachten wollen, dann müssen wir auf Jesus sehen. Dann müssen wir ihn uns vor Augenstellen lassen, der ins Leiden geht. Und der, indem er leidet, der ist, der eigentlich handelt, und der das Geschehen bestimmt. Dass wir ihn richtig sehen, dass wir sein Leiden richtig betrachten, dazu möchte uns der Evangelist Johannes helfen. Wenn wir seinen Worten heute sorgfältig nachgehen, so kann er uns dazu führen, dass wir Jesu Leiden wirklich erkennen. Dass wir den Herrn in seinem Leiden sehen. Und dass wir ihn so sehen, dass wir die Kraft seines Leidens und Sterbens erkennen, in welchem er Sünde und Tod für uns überwunden hat.

Da kommen einige Griechen in Jerusalem zu Jesu Jüngern. Gewiss fromme Menschen, Menschen, die in ihrem Heidentum keine rechte Ruhe gefunden hatten für ihre Seelen, und die darum dem Gott glauben wollten, den die Juden verehrten. Die wollten Jesus kennenlernen. Das ist ein sehr verständlicher Wunsch, denn der Name Jesu war damals gewiss in aller Munde, im Guten und im Bösen. Sie wollten Jesus kennenlernen, da sie nun schon einmal die weite Reise nach Jerusalem hinter sich hatten. Das können wir gut begreifen. Aber wir verstehen wir auch recht, warum Jesus diesen Wunsch ablehnt? Warum er diesen Griechen kein einziges Wort schenkt, sondern sich in einer Rede an die Jünger wendet und an das Volk, das herum steht, und zu ihnen von der Bedeutung dieser Stunde redet, wo sein Leiden und Sterben nun unmittelbar bevor steht. Seht – damit will Jesus uns allen klar machen, was von entscheidender Bedeutung ist, wenn wir ihn richtig sehen wollen in seinem Leiden: Jesus kenn man nicht kennenlernen, wie man einen Menschen kennenlernt, der einen besonders interessiert. Jesus kann man in seinem Wesen nicht erfassen, wie man einen anderen Menschen erfasst: Indem man ihm einfach nur von Angesicht zu Angesicht gegenüber tritt. Indem man ihn sich genau ansieht, und versucht, aus dem Blick seiner Augen, aus dem Ton seiner Stimme, aus der Art, wie er sich gibt, sein Inneres zu erfassen. So können wir es bei Jesus gerade nicht machen. Und darum hätte es diesen Griechen, die ihn gerne sehen wollten, gar nichts geholfen, wenn Jesus sie empfangen hätte. Wenn er ein paar Worte mit ihnen gewechselt hätte. Wenn sie einen äußerlichen Eindruck von seiner Persönlichkeit gewonnen hätten. Ja, so können wir es auch nicht machen, dass wir ihn in seinem Leiden einfach betrachten, als interessierte Zuschauer gleichsam, die dieses Geschehen des Leidens Jesu vor ihrem geistigen Auge vorbei ziehen lassen. Nein! Wenn wir das Leiden Jesu so betrachten wollen, dann werden wir es ganz bestimmt nicht verstehen. Dann werden wir uns vielleicht erregen über die Bosheit der Menschen, die dem Heiland so Schlimmes angetan haben. Wir werden vielleicht ein Mitgefühl spüren darüber, wie schwer doch der Heiland leiden musste. Aber wir werden nur immer Zuschauer seines Leidensweges sein. Und diesen Weg Jesu ans Kreuz, den kann man eben nicht als Zuschauer vor dem geistigen Auge ablaufen lassen, so, wie man sich einen Film ansieht. Viel mehr: Was Jesus damals zu seinen Jüngern sagte, und was er genauso zu uns sagt: ist dies: Sein Leiden und Sterben, das kann nur begreifen, wer in diesem Leiden und Sterben mit dabei ist.

Diesem Geheimnis wollen wir miteinander nachdenken, denn nur so wird uns die ganze Kraft seines Leidens und Sterbens deutlich werden. Es ist uns angedeutet mit den Worten, mit denen Jesus seine Rede beginnt und schließt, und die beide im Grunde das Gleiche besagen wollen: „Es sei denn, dass das Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, so bleibt‘s allein. Wo es aber erstirbt, so bringt es viel Früchte.“ Was hier in einem Bildwort ausgesprochen ist, das sagt Jesus noch einmal mit klaren Worten: „Wenn ich erhöhet werde von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen.“ Seht, da sagt es Jesus mit klaren und deutlichen Worten: Dieses sein Leiden und Sterben, das ist nicht sein Leiden und Sterben allein. Vielmehr wir alle sind in dieses sein Leiden und Sterben mit hinein genommen. Denn wir alle sind ja die Frucht seines Leidens und Sterbens. Darauf zielt es, dieses Leiden unseres Heilandes, dass wir dadurch an ihn glauben, dass wir dadurch zu ihm gehören, dass wir die sind, die er durch sein Leiden und Sterben gewinnt. Wir sind es, die er zu sich ziehen möchte, der Herr, der am Kreuze hängt. Denn von seinem Kreuz hat er ja geredet, als er sagte: „Wenn ich erhöhet werde von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen.“ Da meinte er seine Erhöhung ans Kreuz, wie uns das der Evangelist erläutert: „Das sagte er aber, zu deuten, welches Todes er sterben würde.“ Das ist der einzige Sinn seines Leidens und Sterbens, liebe Freunde, dass er uns durch dieses Leiden und Sterben zu sich ziehen will. Dass er uns alle durch dieses Leiden und Sterben zu seinem Eigentum machen will. Dass wir ihm gehören sollen. Und seht, eben darum können wir dieses Leiden und Sterben nicht einfach so betrachten, wie man vielleicht sonst das Schicksal eines Menschen betrachtet. Wir sind hier auf gar keinen Fall zum Zuschauen aufgerufen, vielleicht zu einem sehr besorgten, teilnahmsvollen, oder auch zu einem dankbaren Zuschauen. Vielmehr: Das Leiden und Sterben unsres Heilandes, das betrachten wir nur dann recht, wenn wir das an uns geschehen lassen, was er durch dieses Leiden und Sterben tun will. Wir betrachten es nur dann richtig, wenn wir uns durch dieses Leiden und Sterben zu ihm ziehen lassen.

Wie aber kann das geschehen? Auch das zeigt uns Jesus in seinen Worten, zeigt es uns so, dass wir der Klarheit dieser Worte nicht ausweichen können: „Wer sein Leben liebhat, der wird’s verlieren; und wer sein Leben hasst auf dieser Welt, der wird’s erhalten zum ewigen Leben.“  Freilich, das ist nun ein Wort, das uns allen sehr hart und sehr seltsam erscheint. Ein Wort, das uns allen zunächst wohl sehr gegen den Strich geht. Denn ist das nicht ganz natürlich, dass wir unser Leben lieben? Ist nicht der ganz natürliche Selbsterhaltungstrieb jedem Geschöpf dieser Welt, und also auch dem Mensch mitgegeben worden? Aber seht – Jesus will uns ja mit diesem Worte nicht zum blinden Hass gegen das eigene Leben, gar zu Selbstzerstörung dieses Lebens antreiben. Vielmehr: Er redet von unserem Leben in dieser Welt, das wir hassen sollen. Und mit dieser Welt, da meint er die Welt, die unter der Gewalt des Satans steht. Da meint er die Welt – und freilich, diese Welt kennen wir nur zur Genüge – in der die Völker sich in verderblichem Ringen zerfleischen. Da meint er die Welt, in der jedermann nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht ist.  Da meint er die Welt, in der sich jedermann beugt vor dem, der gerade oben ist, und gerne bereit ist, dem, der am Boden liegt, auch noch einen kräftigen Tritt zu versetzen. Da meint er die Welt, in der einer des anderen Feind ist, und jeder gerne bereit ist, dem Nächsten Übles zu tun, wenn ihn dadurch ein Vorteil entsteht. Diese Welt ist es, der unser Heiland Jesus Christus den Kampf angesagt hat. Diese Welt ist es, die ihn zu Tode bringt, und die doch sich gegen die Macht seines Leidens und Sterbens nicht halten kann! Seht, liebe Freunde, das Leben auf dieser Welt hassen, das heißt: Die Sünde hassen. Die Selbstzerstörung des Menschengeschlechtes hassen. Die Ungerechtigkeit und Lieblosigkeit hassen. Aber freilich: Wenn wir es ernst meinen, mit diesem Hass gegen alle Bosheit dieser Welt – dann dürfen wir den Gegenstand unseres Hasses nicht irgendwo draußen suchen, irgendwo, wo wir selbst nicht beteiligt sind. Es ist leicht, sich über die großen Herrn dieser Welt zu erregen, die das Kriegsspielen mit aller Gewalt nicht bleiben lassen können, und die darum immer von neuem Leid und Schmerz und Not über die Völker herab rufen. Es ist auch einfach, über den Nachbarn herzuziehen, der mit Niemand Frieden halten kann, und mit dem man eben darum nicht mehr spricht. Aber dazu sind wir ja gerade nicht aufgerufen, unser Missfallen an der Schlechtigkeit der Welt so auszudrücken, dass wir diese Bosheit und Schlechtigkeit bei anderen aufsuchen und verurteilen. Vielmehr sagt Jesus sehr klar und eindeutig: Wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird’s behalten zum ewigen Leben. Wer seine Bosheit hasst, seine Sünde, seine Unverträglichkeit, sein eitlen Sorgen – dem gilt der Ruf Jesu Christi: Den will er haben als seinen Jünger. Den will er in seine Gemeinschaft ziehen. Dem gilt, dass er dort sein wird, wo Jesus ist – Dass er mit ihm stehen soll auf der Seite derer, die die Bosheit der Welt nicht vermehren, indem sie selber Böses tun, sondern die unter dieser Bosheit der Welt leiden und die so die Bosheit der Welt überwinden. Aber ihn, der so bei dem leidenden Heiland steht, ihm gilt auch die Verheißung: „Wer mir dienen wird, den wird mein Vater ehren.“

Seht: Das heißt Jesu Leiden richtig betrachten, wenn wir uns durch diese Betrachtung auf seine Seite ziehen lassen. Wenn wir uns einreihen in die Schar derer, die an ihn glaub en, in die Schar derer, die die Kraft seines Leidens und Sterbens in ihrem eigenen Leben erfahren haben. Werden auch wir das erfahren? Wird es auch an uns geschehen, dass durch das Leiden Christi in das er uns mit hinein ziehen will, der Fürst dieser Welt, der Satan, ausgestoßen wird, und zwar ausgestoßen aus unseren Herzen? Wird es auch an uns und durch uns geschehen, dass Gott seinen Sohn und damit seinen eigenen Namen verherrlicht? Seht, Jesus redet davon, dass in seinem Leiden sich das Gericht vollzieht über diese Welt und ihre Bosheit. „Jetzt geht das Gericht über diese Welt.“ Wird es auch über uns ergehen? Werden wir zu denen gehören, die ausgestoßen werden mit dem Fürsten dieser Welt? Die ausgeschlossen sind von dem ewigen Leben? Das unser Heiland uns mit seinem Leiden und Sterben erworben hat? Oder werden wir zu ihm gehören? Das sind wir gefragt – Und nur dann werden wir das Leiden und Sterben unsres Heilandes richtig betrachten, wenn wir es nicht anschauen als etwas, das uns im Grunde nichts angeht, sondern wenn wir uns dadurch in seine Gemeinschaft ziehen lassen. Amen.