13.n.Trinitatis  27.August 1961  Wolfenhausen / Nellingsheim

143,1-3               Oh Gott, du höchster Gnadenh. (102)

244,1-5               Ich ruf zu dir, Herr Jesu (120)

526,6                  Es ist etwas, des Heilands (257)

286,7+8              Ach Gott, wie manches (234)

1. Joh 4,7-16   Lk 10,25-37

Liebe Gemeinde!

Wenn wir die Worte hören „Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem herab nach Jericho und fiel unter die Räuber“, so wissen wir schon, wie es weiter geht. Wie der Priester vorbei kommt und nichts tut, und wie der Levit vorbei kommt und nichts tut, und wie dann schließlich der barmherzige Samariter vorbei kommt und dem armen Menschen hilft. Wir wissen aber sicherlich nicht nur, wie diese Geschichte vom barmherzigen Samariter vor sich geht, wir wissen auch, dass sie mit der Mahnung aufhört: „So gehe hin und tue desgleichen.“ Und auch diese Mahnung wird doch wohl auf unser aller selbstverständliche Zustimmung rechnen können. So ist das – Nächstenliebe, die ist uns geboten, und wahrscheinlich werden es sehr viele sein, die zwar den christlichen Glauben im Ganzen ziemlich abweisend gegenüber stehen, die aber doch das Eine gewiss aus diesem Glauben beibehalten wollen: Eben diese Forderung der Nächstenliebe, wie sie Jesus in diesem Gleichnis vom barmherzigen Samariter exemplarisch verdeutlicht hat.

Warum ist das eigentlich so? Warum halten wir alle miteinander diese Forderung der Nächstenliebe, der Nächstenliebe in ihrer weiten und umfassenden Form, wie sie Jesus in der Geschichte vom barmherzigen Samariter verdeutlicht hat, für eine Selbstverständlichkeit? Wohlgemerkt: Selbstverständlich ist nur die Zustimmung zu dieser Forderung. Selbstverständlich dagegen ist keineswegs, dass diese Forderung erfüllt wird. Doch bleiben wir zunächst bei unserer Zustimmung zu dieser Forderung – die in unserer Zeit so etwas wie eine Selbstverständlichkeit geworden ist. Würde man etwas eine Meinungsumfrage unter unseren Zeitgenossen anstellen, welche die Frage stellte: Bejahen Sie die christliche Forderung der Nächstenliebe? – So würden bestimmt alle miteinander, welche gefragt würden, dieser Forderung zustimmen – selbstverständlich tun wir das, selbstverständlich bejahen wir diese Forderung.

Aber seht: So selbstverständlich ist es nun doch nicht, was Jesus sagt. Das mögen uns einige Überlegungen zeigen. Zunächst einmal dies: Gar zu leicht unterläuft es uns, dass wir die Forderung der Nächstenliebe gleichsam umdrehen, von uns weg auf andere drehen. So, dass wir meinen: Der, der sollte sich einmal dran halten – mir gegenüber. Bin ich doch fast so arm dran, wie der, welcher zwischen Jerusalem und Jericho im Graben lag – und doch kümmert sich keiner um mich. Und das, das wollen Christen sein? Haben wir es nicht oft schon so gehört – oder doch so ähnlich? Natürlich sind alle die, welche so reden, auch für die Nächstenliebe – aber sie haben diese Forderung verdreht: Statt dass sie erkennen, wie diese Forderung auf sie zielt, haben sie Jesu Worte und haben sie sein Gleichnis genommen, und zeigen damit nun auf andere, um die anzuklagen und um sich selber zu bemitleiden.

So selbstverständlich ist diese Forderung Jesu also gar nicht – die gewiss nicht dazu da ist, dass sie einer nehmen und als Waffe im Kampf um seine Selbstbehauptung benützen könnte. Seht – da scheint der Schriftgelehrte, der mit Jesus über diese Forderung der Nächstenliebe disputiert hat, schon ein ehrlicherer Mann gewesen zu sein mit seiner Frage: „Wer ist denn mein Nächster?“ Der wollte grundsätzlich schon seine Bereitschaft zeigen, diesem Gebot Gottes nach zu kommen. Aber er wollte ganz genau wissen, welche Leute das waren, die er zu lieben hatte, und für welche Leute dieses Gebot nicht galt. Galt es z.B. auch für die Feinde des Vaterlandes, galt es z.B. auch für die Götzendiener, welche die wahre Religion verachteten und unterdrückten?  Galt es z.B. auch für den, von welchem er durch eine persönliche Feindschaft, gleich welcher Ursache, getrennt war? Das wollte dieser Mann von Jesus wissen, wollte Jesu Meinung zu dieser Frage, die unter den jüdischen Schriftgelehrten jener Zeit immer wieder besprochen wurde, hören! Ich sage, er war ehrlicher, dieser Mann, als viele, welche heutzutage dieser Forderung der Nächstenliebe gerne und lautstark zustimmen, obwohl sie bei näherem Zusehen in ihrem Inneren genau die gleichen Vorbehalte machen, wie sie die jüdische Lehrmeinung zur Zeit Jesu kennzeichnet: Nächstenliebe – selbstverständlich. Aber der  und der, dieser gemeine Kerl – der kann sehen, wie er eine Hilfe findet – ich brauche das nicht weiter auszuführen. Oder: Nächstenliebe, selbstverständlich, aber die uns hassen, die uns vernichten wollen, die Kommunisten beispielsweise, oder die Chinesen, die gelbe Gefahr aus dem Osten – die gehen uns doch nichts an – die sollen sich zunächst einmal ändern – und wenn es ihnen schlecht geht, dann ist das gerade recht! Seht – Nächstenliebe? Selbstverständlich. Aber wenn wir genauer zusehen, so merken wir doch recht bald die geheimen und schließlich auch die offen zugegebenen Vorbehalte gegen diese Forderung – merken, dass sie gar nicht so selbstverständlich ist, wie das auf den ersten Blick und so oben hin erscheinen mag.

Doch unser Fragen wird weiter gehen: Da ist ja nicht nur der Schriftgelehrte, der Jesus gegenüber seine Vorbehalte anmeldet: Nächstenliebe – jawohl! Das steht im Gesetz. Aber wer ist nun Nächster? Und vor allem: Wer ist es nicht? Vielmehr: Da werden uns nun in Jesu Gleichnis noch zwei andere vorgeführt, die auch auf ihre Weise zu dem Gebet der Nächstenliebe Stellung nehmen. Der Priester und der Levit – beides Gottesdiener und also Leute, von denen man doch eigentlich erwarten müsste, dass sie Gottes Gebot in einer ganz besonderen Weise ernst nehmen. Und sie gehen beide an dem Unglücklichen vorüber. Warum? Jesus hat das nicht ausdrücklich angesprochen – wahrscheinlich, weil es seine Hörer sowieso wussten: Ein Priester durfte keinen Toten anrühren (mit der einzigen Ausnahme seiner leiblichen Eltern) – und wenn ihn dieser unglückliche Mensch nun unter den Händen wegstarb – dann war er für sein Priesteramt untauglich geworden. Und das durfte er doch nicht riskieren – er musste doch schließlich auch an sich selbst und seine Familie denken. Und der Levit – er wird, da er nicht wie der Priester von Jerusalem herab kam, sondern dorthin unterwegs war, wir er seinen Tempeldienst haben antreten müssen. Und da konnte er sich doch auf keinen Fall aufhalten lassen. Seht, auch das waren wichtige und ernsthafte Verpflichtungen. Es war nicht einfach ein unbarmherziges Nicht-Wollen, welches den Priester und den Leviten vorbei gehen ließ – sondern es waren Verpflichtungen, welche ihnen nun doch noch wichtiger erschienen als dies Gebot, dem Unglücklichen beizustehen. Nächstenliebe? Selbstverständlich! Aber man hat doch schließlich auch noch andere Verpflichtungen und muss zunächst an sich selbst und seine Familie, an Arbeit und Verdienst denken. Wenn dann noch etwas übrig bleibt: Gerne!

Liebe Freunde! Wenn wir Jesu Geschichte so betrachten, merken wir, dass es gar nicht sehr weit her ist mit der selbstverständlichen Zustimmung zu dieser Forderung der Nächstenliebe. Vielmehr – indem jedermann ja sagt, drückt er sich erst recht. Nächstenliebe? Selbstverständlich! Sollen die Christen mir doch einmal zeigen, dass sie ihren Nächsten lieben. Nächstenliebe? Selbstverständlich! Aber alle können nun doch nicht gemeint sein. Das ginge entschieden zu weit, wenn der oder jener oder die auch meine Nächsten sein sollten. Nächstenliebe? Selbstverständlich! Dafür habe ich auch etwas übrig. Aber natürlich hat man auch seine Verpflichtungen gegen sich selbst, und die müssen doch hin und wieder den Vorrang haben (denn jeder ist sich selbst der Nächste).

Liebe Freunde! So sieht es aus – und dass es wahr ist, dass diese Forderung der Nächstenliebe, welche theoretisch so allgemeine Zustimmung findet, in Wirklichkeit gar nicht praktiziert wird, das mögen wir daran ablesen, dass Unglückliche genug auf unseren „Straßen“ herum liegen, und auf ihren barmherzigen Samariter warten, der merkt: Da bin ich der Nächste, bin ich am nächsten dran, um zu helfen – und der dann nicht lange fragt, sondern schlicht und einfach das selbstverständlich Notwendige tut. Lassen wir uns darum das Gewissen schärfen,  damit wir den sehen, den Gott uns hingelegt hat – denn um unser Leben geht es da, wie Jesus sagt: Tue das, so wirst du leben. Amen.