1. Kor 4,1-5
15.12.1957 (3. Advent), Wolfenhausen/Nellingsheim

EG 11,1-4 Wie soll ich dich empfangen
EG 10,1-4 Mit Ernst, o Menschenkinder
EG [Baden/Pfalz] 543,2-3 Warum willst du draußen stehn, du Gesegneter des Herrn
EKG [Württemberg] 401,6-7 Hosianna! Davids Sohn kommt in Zion eingezogen
Ps 80

Liebe Gemeinde!
Der alte jüdische Weise Rabbi Akiba soll einmal gesagt haben: „Es gibt nichts Neues unter der Sonne.“ Und wenn wir unsere Worte aus dem ersten Brief des Apostels Paulus an die Korinther sorgfältig genug durchlesen, so müssen wir ihm eigentlich damit recht geben. Denn in diesen Worten, da zeigt sich uns eine christliche Gemeinde, wie es sie immer wieder geben wird. Eine christliche Gemeinde, die mit dem nicht zufrieden ist, der ihr das Wort Gottes zu predigen hat. Und dabei sollten wir doch denken: Wenn der Apostel Paulus dasteht und seine Predigt hält, dann sollten die Leute ihre Ohren spitzen. Dann sollten sie genau aufmerken, denn dieser Mann, der hatte doch ganz gewiss jedem einzelnen etwas zu sagen. Aber nein! Sie haben über ihn geschimpft. Sie haben ihn getadelt. Seine Redeweise war ihnen nicht kräftig genug. Er predigte ihnen zu langsam und stockend und hatte oft Mühe, seine Worte zu setzen. Und was den Inhalt seiner Predigten betraf, so meinten die Korinther damals: In den Predigten des Apostels Paulus, da sei eben zu wenig Weisheit drin. Die seien zu einfach und nicht studiert genug. Gegen solche Vorwürfe musste sich der Apostel Paulus damals verteidigen. Und ich brauche es eigentlich gar nicht ausdrücklich zu sagen: Das sind genau dieselben Vorwürfe, die auch heute immer wieder gegen die erhoben werden, die predigen müssen, die Gottes Wort zu sagen haben.
Freilich: Solches Beurteilen und Verurteilen und solches Richten steckt tief drin in der menschlichen Natur. Es kommt immer wieder hoch in unser Herz und in unsere Gedanken. Und nichts ist vor unseren Urteilen sicher – auch nicht Gottes Wort und Gottes Gebot. Solches Urteilen-Wollen steckt in uns drin, seit die Schlange im Paradies es herauslockte hat mit ihrer listigen Frage: Sollte Gott gesagt haben? Aber dadurch, dass solches Urteilen, solches Richten, wie der Apostel sagt, gleichsam von selber in unseren Herzen emporsteigt, dadurch wird es nicht besser! Was gibt uns denn das Recht zu solchem Urteil? Woher wollen wir denn immer wieder alles besser wissen? Sind wir denn so klug und so gescheit, dass wir alles schon selber kennen, und dass wir uns darum zu Richtern aufwerfen über Dinge, die größer sind als unser Verstand. Dass wir uns zu Richtern aufwerfen über andere Menschen. Seht, es steckt tief in unserer menschlichen Natur, dass wir immer wieder beurteilen und aburteilen und richten wollen! Darum tun wir gut daran, die Mahnung des Apostels sehr persönlich zu Herzen zu nehmen: Richtet nicht vor der Zeit!
1. Was das heißt "Nicht vor der Zeit richten", das wollen wir zunächst einmal betrachten in seiner Beziehung auf das Amt des Pfarrers. Denn so lautet die Mahnung des Apostels zunächst einmal: Richtet nicht vor der Zeit die, die euch Gottes Wort zu predigen haben. Freilich – gerade da kommt es unwillkürlich dazu, dass wir richten und urteilen, wenn wir am Sonntag in der Kirche eine Predigt hören. Das eine Mal gefällt sie uns. Wir sind gepackt und ergriffen. Und das andere Mal, da sind wir enttäuscht: Heute ist wieder einmal gar nichts für mich dabei gewesen!
Aber – ist denn eine solche Haltung richtig? Freilich: wir Pfarrer haben für die zu predigen, die unter unserer Kanzel sitzen. Aber wir haben nicht das zu predigen, was die Leute hören wollen. Vielmehr: Wir haben Gottes Wort auszulegen, haben die Worte der Heiligen Schrift zu predigen, die gerade für den entsprechenden Sonntag vorgeschrieben sind. Und freilich: das ist meine Überzeugung: Diese Worte gehen jeden einzelnen an, gehen jeden an, der unter der Kanzel ist. Nicht darauf kommt es an, dass wir irgendjemand zu Gefallen reden. Sondern darauf kommt es an, dass wir das predigen, was in Gottes Wort steht. Wie sagt das der Apostel Paulus? „Nun sucht man nicht mehr an den Haushaltern, denn dass sie treu erfunden werden.“ Dazu sind wir Pfarrer da, liebe Gemeinde, dass wir treu sind dem Wort gegenüber. Dass wir nichts dazu tun und nichts weg lassen an diesem Wort! Dass wir dieses Wort so predigen, wie es dasteht, und nichts an ihm ändern um den Menschen zu gefallen. Dazu sind wir da, um dieses Wort rein und lauter und unverfälscht zu sagen. Dazu sind wir treue Haushalter! Darum gilt es gerade hier: Richtet nicht vor der Zeit! Denn wir alle wissen doch nie genug von diesem Wort und sollten darum immer wieder neu auf dieses Wort hören. Und doch fällen wir immer wieder neu unser Urteil. Vielleicht gar nicht einmal so, dass wir ausdrücklich sagen: Der Pfarrer und seine Predigt gefällt mir nicht. Viel eher so, dass wir einfach wegbleiben vom Gottesdienst am Sonntagmorgen. Aber – was ist denn dieses Wegbleiben anderes als eben ein solches Richten, vor dem der Apostel warnt. Wenn am Sonntagmorgen die Glocken zum Gottesdienst rufen – und wir hören nicht darauf, wir meinen, wir hätten Anderes und Besseres zu tun, als jetzt in die Kirche zu gehen: Was ist das denn anderes, als dass wir mit unserem Verhalten in aller Öffentlichkeit zeigen: Das, was da in der Kirche verhandelt wird, das geht mich nichts an. Das hat mit mir und meinem Leben nichts zu tun.
Liebe Gemeinde! Lasst uns gerade hier die Mahnung des Apostels mit ganzem Ernst zu Herzen nehmen, diese Mahnung: Richtet nicht vor der Zeit, bis der Herr kommt! Dann, wenn der Tag kommt, wo wir Rechenschaft abzulegen haben über unser Leben, dann wird sich’s allerspätestens zeigen, was uns dies Wort angeht. Dann werden wir gefragt werden, ob wir uns zu diesem Wort gehalten haben. Dann wird es sich zeigen, wie falsch unsere Gleichgültigkeit gegen dieses Wort ist. Richtet nicht vor der Zeit – das heißt zunächst einmal: Haltet euch zu dem Wort, das euch gepredigt wird. Seid nicht gleichgültig diesem Wort gegenüber, meint nicht, ihr wüsstet schon, was in diesem Wort steht und was der Pfarrer darüber predigt. Richtet nicht – das heißt: Lasst euch etwas sagen, immer neu, denn das, was euch hier gesagt wird, das habt ihr alle bitter nötig.
2. Richtet nicht vor der Zeit – das geht nun aber nicht bloß den Pfarrer an und das Verhalten der Gemeinde dem Pfarrer gegenüber. Sondern das geht uns alle miteinander an in unserem Verhalten untereinander: Diese Mahnung, wir sollten nicht vor der Zeit richten. Wir sollten nicht vor der Zeit urteilen und aburteilen über den Wert eines Menschen. Das, was wir sehen und beurteilen können, das sind doch immer nur Äußerlichkeiten. Der Herr aber „wird ans Licht bringen, was im Finstern verborgen ist, und den Rat der Herzen offenbaren.“ Was wir sehen, liebe Freunde, das sind immer nur Äußerlichkeiten, und darum sollten wir am besten das Urteilen und Aburteilen bleiben lassen. Denn nur dem Herrn sind wir alle miteinander Rechenschaft schuldig, so gewiss von jedem unter uns das Wort des Apostels gilt: „Dafür halte uns jedermann: Für Diener Christi und Haushalter über Gottes Geheimnisse.“ Denn jeder von uns ist durch den Herrn an seinen Platz gestellt und jedem gilt das Wort: „Alles, was ihr tut, das tut von Herzen, als dem Herrn und nicht den Menschen.“ Seht, es ist ein Großes, dass wir alle Haushalter sein dürfen über Gottes Geheimnisse. Dass wir bewahren und behüten und bedienen dürfen, was er in seine Schöpfung hineingelegt hat. Dass wir alle dazu da sind, Haushalter zu sein über das Geheimnis des Lebens. Gerade der Bauer wird wissen, was das heißt, ein Diener und Haushalter über Gottes Schöpfungswerk zu sein. Dem immer neuen Wunder zu dienen, dass der Acker uns Nahrung gibt. Und jede Mutter, die ihre Kinder zur Welt bringt, wird wissen, was das heißt: dem göttlichen Geheimnis des Lebens zu dienen.
Liebe Gemeinde! Wir alle sind von Gott in die Ordnungen seiner Welt hinein gestellt, dass wir ihm dienen mit unserer Arbeit. Wir sind nicht frei in unserem Tun. Wir können nicht tun und lassen, was uns gerade gefällt und passt.  Vielmehr – wir wissen, dass jeder von uns einmal wird Rechenschaft ablegen müssen über das, was er getan hat. Dass er gefragt werden wird, ob er den Platz wirklich ausgefüllt hat, an den er gestellt wurde. Ob er wirklich treu gewesen ist. „Nun sucht man nicht mehr an den Haushaltern, denn dass sie treu erfunden wurden.“ Seht, danach werden wir gefragt werden, ob wir diese Treue Gott gegenüber bewiesen haben in unserem Leben, jeder an dem Platz, an den ihn Gott gestellt hatte. Und wer von uns vermag diese Treue zu sehen und über sie ein Urteil zu fällen. Richtet nicht – das heißt, dass wir die Menschen, mit denen wir zusammen leben, gelten lassen. Das heißt, dass wir selber unbekümmert um alles falsche Urteilen und alles ungute Gerede unseren Weg gehen, so, wie uns das unsere Treue zu Gott vorschreibt. Denn nicht das Urteil von Menschen bestimmt ja letzten Endes, ob wir unser Leben richtig gelebt haben, sondern das Urteil Gottes.
3. Aber nun müssen wir noch einen Schritt weiter hineingehen in die Gedanken des Apostels, dass wir das ganz und gar erfassen, was er uns zu sagen hat. Denn nicht das ist ja das Merkwürdige an seinen Worten, dass er sich so ganz unabhängig weiß von dem Urteil der Menschen. Das gibt es auch sonst; das ist zum Beispiel ausgesprochen in dem bekannten Wort: Tue recht und scheue niemand. – Vielmehr – das eigentlich Merkwürdige an den Worten des Paulus ist dies, dass er von sich selbst sagt: Auch richte ich mich selbst nicht. Seht, da haben wir nun noch einmal zu lernen. Wir sind es ja gewohnt zu sagen: Des Gewissens Stimme ist Gottes Stimme. Aber da zeigt uns nun der Apostel: Unser Herr und sein Urteil ist auch größer als die Stimme des Gewissens. Sein Blick ist schärfer und sein Urteil ist klarer und unbestechlicher als das Urteil des Gewissens in unserer Brust. Seht – unser Gewissen, das können wir in vielfacher Weise einschläfern und betrügen. Doch der Herr, dessen Gericht wir erwarten, wird alles, auch das verborgenste Innere unseres Herzens ans Licht bringen. Darum wäre es völlig verfehlt, wenn wir uns ihm gegenüber etwas auf unser gutes Gewissen verlassen wollten. Hören wir, was der Apostel sagt: „Ich bin mir nichts bewusst, aber darin bin ich nicht gerechtfertigt, der Herr ist’s aber, der mich richtet.“ Richtet nicht vor der Zeit – das heißt also: verlasst euch nicht auf euer gutes Gewissen, denn dieses Gewissen kann euch betrügen! Vielmehr – das Einzige, worauf wir uns verlassen können und sollen, das ist der Herr selber. Ist der Herr, der kommen wird, vor dem wir stehen werden, wenn seine und unsere Zeit da ist. Daran lasst uns immer denken, ihm sind wir verantwortlich. Er hat uns, jeden von uns, auf seinen bestimmten Platz im Leben gestellt. Darauf kommt es an, dass wir diesen Platz in aller Treue und Gewissenhaftigkeit ausfüllen. Und dass wir dabei doch immer wissen: Nur seine Gnade und Barmherzigkeit ist es, wenn unser Leben nicht vergeblich gewesen ist, wenn es ein Leben war zu seiner Ehre, zu seinem Lob und Preis, ein Leben, in dem wir Diener Christi gewesen sind und Haushalter über Gottes Geheimnisse.
Amen.