2. Kor 5,14-21
27.03.1964 (Karfreitag), Wolfenhausen / Nellingsheim

EG 81,1-6, Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen
EG 83,1-3  Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld
EG 90,1.2 Ich grüße dich am Kreuzesstamm
EG 83,4 Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld

Lukas 23,13-25   2. Korinther 5, 14-21

Liebe Gemeinde!
Zwischen Palmsonntag und Karfreitag liegen nur ein paar Tage, und wir sind heute gewiss keine anderen Leute, als wir am Palmsonntag waren. Gerade darum aber ist es eine so rätselhafte Sache, wie dieselben Leute, die am Palmsonntag Hosianna geschrien haben, am Karfreitag dann schrien: Weg mit dem, kreuzige ihn! Freilich hat es keinen Sinn, das nun gerade auf die Wankelmütigkeit und Unbeherrschtheit  der Juden zur Zeit Jesu zu schieben.
Nein! Was da herauskommt, ist von allgemeinerer Bedeutung. Warum wollten sie eigentlich den Barabbas frei bekommen und verlangten den Tod Jesu? Wohl deshalb, weil es sich mit der Lüge scheinbar besser leben lässt als mit der Wahrheit. Mit der Lüge über sich selbst nämlich. Dass einer meint, er sei ein rechter und guter und anständiger Mensch, das ist die Lüge, die wir brauchen, an der uns gelegen ist. Und dazu brauchen wir ja die anderen, die schlechter sind als wir selbst, brauchen wir sie, die uns bestätigen, so einen Barabbas beispielsweise, von dem man sagen kann, dass er es gewiss nicht verdiente zu leben. Diese brauchen wir, denn durch diese können wir uns selbst bestätigen. Das ist die Lüge, unser aller Lüge, dass wir einer besser sein wollen als der andere, und die Hälfte unseres Redens dreht sich ja bloß darum, dass wir andere herunterreißen und schlechtmachen, um selber als die frommen und guten Leute dazustehen.
Liebe Freunde! So gesehen ist die Wahl des Barabbas eine Sache, die ganz typisch ist für unser aller Art, und wir haben gewiss keinen Anlass, so zu tun, als seien wir andere, bessere Leute, und als wäre das, was damals am Karfreitag in Jerusalem mit Jesus passiert ist, bei uns gewiss nicht vorgekommen.
Aber seht, eben mit dem, was da geschah, ist ja nun doch nicht jene unsere menschliche Lebenslüge zum Zug gekommen, sondern die Wahrheit Gottes. Diese Wahl: Barabbas, der Sünder, soll leben, Jesus aber, der Gute, der Gerechte, der Mensch voll Liebe, der muss sterben, diese Wahl deckt ja gerade unsere Lüge auf, lässt sie nicht mehr bleiben und bestehen. Denn nun wissen wir es ja, sehen es alle miteinander uns vor Augen gerückt: So ist das gewesen, so ist das mit uns. Da ist einer gestorben, einer für alle, heißt es hier. Sagen wir zunächst einmal lieber etwas einfacher: Wegen aller ist er gestorben. Wegen aller, die lieber ihre Lügen leben wollten: ich bin besser. Aber gerade mit dieser Lüge ist es ja nun aus. Denn nun ist gerade damit klar: Er, der wegen ihrer aller sterben musste, er ist der Gute, der Gerechte, er allein. Und die anderen, die sind es, die es eigentlich nicht verdienten zu leben. Aber es geht ja nun auch nicht um dieses eine allein. Gewiss, der Karfreitag ist dazu da, unsere Lüge aufzudecken. Da kommt es heraus, wie wir dran sind, wie es mit uns allen steht. Da kannst du dich nicht voll Mitleid hinstellen und Jesus beklagen, mit dem sie es doch so böse getrieben haben. Da bist du mit dabei, einer ist wegen aller gestorben. Aber dabei soll es ja gerade nicht bleiben. Er ist für alle gestorben, und Paulus meint, damit seien sie alle gestorben. Das springt da heraus, wo wir uns ihm, wo wir uns seinem Tod überlassen, dass uns das kenntlich wird. Es ist nicht einfach die harte Wahrheit: Wegen Dir, wegen deiner Lüge, mit der du dir selbst und anderen etwas vorlügst von deiner Herrlichkeit, ist er gestorben! Nein! Gegen alle Vernunft, gegen alle Gerechtigkeit ist er gestorben und sind nicht die anderen für sie gestorben. Und Paulus meint: Damit sind sie alle gestorben, alle diese, die sich da ihre eigene Herrlichkeit vorlügen und für diese Herrlichkeit sich einsetzen und verkämpfen. Das ist aus, wo man von Karfreitag eine Ahnung hat, von diesem, der da für alle gestorben ist.
Wir können uns das ruhig klarmachen in aller Drastik: Wenn einer draußen lügt, der ärgert sich nicht mehr über ein böses Wort, und vielleicht sind die anderen auch vorsichtiger, es zu sagen: Über die Toten nichts außer Gutem! So hieß es bei den alten Römern schon. Gestorben sie alle, da geht einem Ehre und Geld nichts mehr an, da schlägt das begehrliche Herz nicht mehr, da ist Ruhe.
So meint es Paulus: Schaut ihn an, er ist für euch alle gestorben, also seid auch ihr mit ihm gestorben, tot, für die Sünde tot, für diesen Anbeter der eigenen Herrlichkeit tot, für diesen Lügner, der sich seine Güte vormacht, indem er sich an der Schlechtigkeit der anderen weidet. Das ist vorbei, wo einer von Karfreitag eine Ahnung gewonnen hat. „Ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden.“
Freilich: Da können wir nun innehalten. So klar und einleuchtend das ist, was der Apostel Paulus hier vorbringt: Ist es denn wahr? Ist es denn wirklich so? Wir alle wissen doch etwas von Karfreitag und hören’s heute wieder. Und wollen das doch glauben und annehmen und gelten lassen. Aber lebt er nicht doch noch recht stattlich in uns, dieser Lügner, der sich an der eigenen Herrlichkeit berauscht und an der Schlechtigkeit der anderen. Ist das unruhige Herz in uns nicht noch munter am Schlagen, das da nach Lust verlangt und nach Ehre und Macht? Noch einmal: Stimmt das?
Liebe Freunde! Sie hat ihr Recht, diese Frage, damit wir uns nicht überheben über die Wirklichkeit unser selbst, die ein ungute und alte, eine verdammte und zum Untergehen reife Wirklichkeit ist. Aber nicht das alleine gilt, dass wir, was wir sind und an uns feststellen können, sozusagen dahertragen und pflegen sollten. Nein! Denn gerade dem sollen wir das Wort entgegensetzen, das Wort, das allein wahr ist, das allein helfen kann. „Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden“, so sagt der Apostel ja nicht im Blick auf das, was er ist und tut, oder auf das, was die, an die er schreibt, sind und tun, so, wie ich es ganz gewiss nicht im Blick auf mich sagen kann und doch wohl auch nicht im Blick auf euch.
Vielmehr: Das alles von Gott, von der Versöhnung in Christus Jesus. Das alles so, dass es auf ihm steht, auf seinem Wollen, auf seinem Vollbringen.
Darauf allein stehen wir, darauf allein stehen sie, diese hochgemuten Worte des Apostels, mit denen er uns den Sinn des Karfreitag dartut - die große Wende, zu vergleichen nur mit dem Tag, da Gott die Welt aus dem Nichts gerufen hat.
Freilich: Das bekommen wir nun nicht einfach hineingedrückt in die sehr lebendige und unmittelbare Erfahrung unserer Lüge und Schlechtigkeit. Vielmehr: Da ist nur dieses Eine, das Wort von der Versöhnung, und die Zeit, die Gott diesem Wort gibt. Da sieht’s einer schon, wenn er überhaupt Augen hat, um Gottes Wahrheit wahrzunehmen. Darum die Bitte, die dringliche Bitte: Bleibt nicht stecken in eurer Lebenslüge, da der Rausch an einer eigenen Herrlichkeit sehr bald vergeht! Bleibt nicht stecken im Zweifel, der auf sich selber sieht! Sondern: Lasst euch versöhnen mit Gott; lasst euch mitnehmen bei dem, was er tut, weg von der Sünde, hin zur Gerechtigkeit!
Amen.