18. nach Trinitatis, 19. Oktober 1952     Lager St. Johannes

 

27, 1-5 Morgenglanz

164,1-5 Lasset uns mit Jesu ziehen

181, 4 Jesu stärke deine Kinder

Taufe: 130, 1-5 Liebster Jesu…

258, 8 Rühmet ihr Menschen…

 

Matthäus 9, 1-8 Epheser 4, 17-32

 

Liebe Gemeinde!

 

Ist es nicht so? Wir alle, die wir uns hier versammelt haben, sind bis obenan gefüllt mit unseren Fragen, unseren Nöten, unseren Sorgen, unserem Leid. Wir können damit nicht fertig werden, darum suchen wir Hilfe bei dem Herrn, bei ihm, von dem wir wissen, dass er der Einzige ist, der uns wirklich helfen kann. Er will uns helfen, liebe Freunde, ja er hilft uns immer neu. Und doch fällt es uns so schwer, dass wir uns von ihm helfen lassen. Es fällt uns so schwer, seine Hilfe wirklich zu spüren, zu erfahren. Woran mag das liegen? Liegt es an ihm, und an seiner Hilfe, die eben doch nicht so schnell und unmittelbar wirksam ist, wie wir es gerne haben möchten. Liegt es daran, wie wir’s so oft mit Bitterkeit im Herzen denken, dass diese Hilfe eben doch nur darin besteht, dass wir auf ein besseres Jenseits vertröstet werden, während hier auf der Erde eben doch alles drunter und drüber geht. Ja – liegt es an ihm, an dem Herrn, dass wir dieser Hilfe so wenig inne werden, dass wir diese Hilfe so selten klar und deutlich vor Augen sehen, ja, dass wir uns gar zu oft so elend und allein finden, ganz allein mit unserer Not, die uns doch oft schier das Herz abdrücken will? Liegt es an ihm – oder liegt es nicht vielmehr an uns, die wir nicht sehen können, die wir uns den Ausblick auf Gottes Hilfe selber verbaut haben, verbaut durch die Mauern unserer eigenen Wünsche, unserer eigenen Gedanken und Vorstellungen, wie die Hilfe, die er uns zuteil werden lässt, eigentlich auszusehen habe. Darum kommen wir hier zusammen, um Gottes Wort zu hören, liebe Freunde, damit diese Mauern eingerissen werden, damit wir den Ausblick frei bekommen auf die großen Taten Gottes, die er immer neu an uns tut, damit wir dadurch Kraft bekommen für unser Leben.

Es sind merkwürdige Worte, die wir gerade gelesen haben, und es ist nicht leicht zu verstehen, was uns der Apostel mit den Worten unseres heutigen Textes sagen will. Da ist von einem alten Menschen die Rede, den wir ablegen sollen, von einem neuen Menschen, den wir anziehen sollen, und mit diesen Worten soll eine Wahrheit ausgedrückt werden, die Wahrheit, die in unserem Leben wirksam werden soll. Und schließlich wird da gesprochen von dem Geist, mit dem wir versiegelt sind auf den Tag unserer Erlösung. Lassen wir uns doch hineinführen in diese Wahrheit. Vielleicht erfahren wir’s dann, dass wir, je tiefer wir hineingeführt werden in diese Wahrheit, desto mehr herausgeführt werden aus unserer Not und unserer Sorge. Denn diese Wahrheit, um die es hier geht, ist eine Wahrheit, die uns befreien will, befreien von dem, was uns Not macht, befreien will gar von uns selbst! Oder sind wir schon solche Menschen geworden, die nicht mehr an die befreiende Macht der Wahrheit zu glauben vermögen? Menschen, die müde und ohne Hoffnung, vielleicht mit einem bedauernden Achselzucken, die Frage stellen, die einst Pilatus an den Herrn Jesus Christus gestellt hat: Was ist Wahrheit? Was Wahrheit ist, davon redet der Apostel in unserem Text. Diese Wahrheit: Wir haben sie gehört und gelernt, als Jünger des Christus – und dis Wort „der Christus“ heißt: der den Gott als unseren Erlöser und als den Erlöser der ganzen Welt bestimmt hat. Wir haben sie gelernt als Jünger des Christus, der in Jesus von Nazareth Wahrheit, eine erleuchtende und wirkende und wirkliche Wahrheit geworden ist. Was diese Wahrheit für unser Leben bedeutet, das will uns der Apostel in den Worten vom alten und vom neuen Menschen sagen.

1)

Was ist das – der alte Mensch, von dem der Apostel redet, jener alte Mensch, den wir ablegen sollen? Was alt ist, das glauben wir zu wissen, und einen alten Menschen können wir doch alle ohne Mühe von einem jungen Menschen unterscheiden. Doch hier muss es um etwas anderes gehen. Denn der Gegensatz zu diesem alten Menschen ist ja nicht der junge, sondern der neue Mensch. Und dies, dass wir es hier oder da mit dem alten Menschen zu tun haben, das erkennen wir nicht am äußeren Aussehen, sondern vielmehr an dem, was ein solcher Mensch tut, wir erkennen es an seiner ganzen Lebensführung, an dem, was der Apostel den Wandel heißt, an seinen Worten und Taten. Und hier zeichnet uns der Apostel nun das Bild des neuen Menschen, ein wirklich erschütterndes Bild! – „Die wandeln in der Nichtigkeit ihres Sinnes, deren Verstand verfinstert ist, und die dem Leben entfremdet sind, das aus Gott kommt, durch die Unwissenheit, so in ihnen ist, durch die Verstocktheit ihres Herzens.“

So sieht es innen drin aus in dem alten Menschen: Sein Sinn ist nichtig, leer, eitel. Sein Leben hat keinen wahren Grund, kein klares Ziel, keinen echten Inhalt. Solch wahrer Grund, solch klares Ziel, solch echter Inhalt für unser Leben kann allein aus Gott kommen. Und diesem Leben aus Gott – das ist die klarste Kennzeichnung – diesem Leben aus Gott ist der alten Mensch entfremdet. Er ist in seinem Leben gleichsam heimatlos geworden, er führt dies Leben in der Fremde. Was das heißt, in der Fremde leben, ohne Heimat leben – das wisst ihr alle. Was das heißt, aus dem Grund des Lebens herausgerissen werden, die Heimat zu verlieren, dem fremd zu werden, was dem Leben bisher Ordnung und Inhalt und Grund und Sicherheit gegeben hat. Nicht umsonst heißt das alte deutsche Wort für Fremde: Elend.

Doch in unserem äußeren Leben, da können wir ja eine neue Heimat finden, ja wir können nicht ohne solche Heimat leben, und darum gelingt es uns immer wieder, neu solche Heimat zu finden, einen Ort der uns vertraut ist, Menschen, die wir kennen, mit denen wir zusammenleben. Doch die Heimatlosigkeit, die den Menschen kennzeichnet, den der Apostel in unserem Texte den „alten“ nennt, das ist eine Heimatlosigkeit, die den letzten, tiefsten Grunde, aus dem unser Leben seine Kraft saugt, fremd geworden ist. Darum ist dieser alte Mensch schlaff – kraftlos, willenlos, zuchtlos. Weil er der Heimat unseres Lebens, weil er Gott, unserem Lebensgrunde, fremd geworden ist, darum ist dieser alte Mensch leer. Diese Leere bedeutet Zuchtlosigkeit, denn wo einem Leben Grund und Ziel und Inhalt fehlt, da wird es getrieben von den Begierden, da ist es zuchtlos. (Fähre im Strom.)

„Die schlaff geworden sind und sich selber der Zuchtlosigkeit hingegeben haben und treiben allerlei Unzucht samt dem Geiz.“ Zwei solcher Begierden nennt uns der Apostel: Die eine, gleichsam die unanständige, die einzugestehen wir uns in unserer bürgerlichen Gesellschaft noch einigermaßen scheuen – die geschlechtliche Triebhaftigkeit, die doch so oft unsere Gedanken und Worte und Vorstellungen ganz beherrscht; sehen wir doch in unsere Illustrierten, oder betrachten wir das, was uns in vielen Filmen vorgesetzt wird. Damit macht man Geschäfte! Und das andere, das ist die bürgerlich doch anständige Begierde, der Geiz, die Habsucht, die immer mehr und noch mehr haben und besitzen will, die die Bedeutung und den Wert des Menschen und des Lebens, das dieser Mensch führt, nach ihrer Einkommenssteuererklärung bemisst. Diese beiden, geschlechtliche Begierde und Habsucht, sie sind für den Apostel gleichsam der Zeiger, nach dem er die Heimatlosigkeit und Leere des Menschen bemisst, des Menschen, den er den „alten“ nennt. Wenn wir ganz ehrlich sind, liebe Freunde, wenn wir prüfen, ob dieser Zeiger auch bei uns ausschlägt, dann werden wir wohl feststellen, dass dieser alte Mensch nicht etwas ist, das für uns schon längst vergangen und vorbei ist, dann werden wir feststellen, dass dieser „alte“ Mensch im Grunde höchst modern ist, ja, dass dieser alte Mensch wir selber sind!

 

 

2)

 

Doch nun möchte uns der Apostel heute noch mehr zeigen als dies, dass es den alten Menschen gibt. Darum redet er vom neuen Menschen. Er redet von diesem neuen Menschen zu den Ephesern als von einem bekannten, als von etwas, da sie längst gelernt und begriffen haben, „Ihr aber habt Christus nicht so gelernt, wenn ihr ihn überhaupt gehört habt und in ihm gelehrt seid, wie in Jesus Wahrheit ist.“ Dieser neue Mensch, das ist nämlich nicht eine Idee, eine Gedanke, eine ideale Vorstellung, die Paulus vor Augen hat, sondern eine höchst reale Wirklichkeit. Dieser neue Mensch ist wirklich und leibhaftig da in dem Menschen Jesus. Und nun ist hier das merkwürdige geschehen, dass durch das Erscheinen des neuen Menschen der alte außer Kurs gekommen ist. Nun, wenn Jesus neben ihm steht, dann wird deutlich, dass dieser alte Mensch vollkommen unnütz und wertlos ist. So wie am Tage der Währungsreform: Als wir die neuen, bunten DM-Scheine in der Hand hielten, da hatte unser altes Geld all seinen Wert verloren. So hat der alte Mensch, von dem der Apostel redet, seinen Wert verloren, endgültig verloren. Zwar, so leicht werden wir das nicht eingestehen wollen – aber damit wird an der einen Tatsache nichts geändert, dass dieser Mensch und sein ganzes Leben keinen Wert hat, keinen Wert hat vor den Augen Gottes! Darum fordert uns der Apostel auf: Weg mit diesem alten Menschen! „Vielmehr leget nun von euch ab den alten Menschen, der eurem vorigen Wandel entsprach, der verderbt wird durch die Verführung der Begierden, und erneuert euch im Geiste eures Gemütes, und ziehet den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in der Gerechtigkeit und Heiligkeit, die aus der Wahrheit kommt.“

Doch – so fragen wir: Wo ist denn dieser neue Mensch, den wir anziehen sollen? Wo der alte Mensch ist, das wissen wir sehr deutlich, wenn wir uns in Wahrhaftigkeit selber betrachten:

Dieser alte Mensch sind wir selber, denn wir können sehr deutlich die Anzeichen dieses alten Menschen an uns selber wahrnehmen. Doch seht: Auch der neue Mensch hat seinen Platz in unserem Leben, dieser neue Mensch will in unserem Leben Gestalt gewinnen, er will immer mehr Raum gewinnen in uns, dieser Mensch, der nach Gott, nach Gottes Willen und Wohlgefallen geschaffen ist. Woher mag er kommen, dieser neue Mensch in uns? Er ist keine natürliche Anlage, nein, er ist von Gott selber in uns hineingelegt. Wann und wie das geschehen ist, darauf macht uns der Apostel aufmerksam mit dem kleinen Sätzlein: „Betrübet nicht den heiligen Geist Gottes, mit dem ihr versiegelt seid auf den Tag der Erlösung.“ Diese Versiegelung, so meint der Apostel ist in der heiligen Taufe geschehen. Und seither, das ist nun das merkwürdige und anscheinend so widersinnige, seither führen wir gleichsam ein Doppelleben: Wir sind alter und neuer Mensch zugleich.

Seht, wir können unser ganzes Christenleben ganz einfach auf die Formal bringen: In diesem Christenleben soll der alte Mensch Stück für Stück vergehen und dem neuen Platz machen. Wie das nun im Einzelnen aussieht, darüber wäre viel zu sagen; darf ich statt dessen einfach vorlesen, was der Apostel uns darüber zu sagen weiß: Darum etc.... Es ist unsere Aufgabe, liebe Freunde, dass wir dem willig sind, was hier mit uns geschieht. Dazu möchte uns Gott helfen. Kann es uns nicht gelingen, dass wir das einmal wirklich sehen? Das sehen, dass der alte Mensch in uns sich immer neu, bis zum Grabe dagegen sträubt, dass er dem neuen Platz geben muss, dass wir diesen Platz uns selber Stück für Stück abringen müssen. Dazu möchte uns Gott helfen! Wollen wir nicht diese Hilfe sehen? Dadurch sehen, dass wir nicht zurückschauen auf das, was gewesen ist, nicht hinstarren auf uns selber, auf den alten Menschen, der in den Tod geht. Sondern auf den neuen sehen, den Gott in uns schafft, hinblicken auf das, was kommt, auf den Tag der Erlösung!

Amen.