Hebr 4,14-16
Beerdigung Februar 1985

Liebe Leidtragende, liebe Gemeinde!
Verstehen und Annehmen, was da geschehen ist: Das braucht Zeit. Es lässt sich nicht in ein paar Tagen, und erst recht nicht hier bei einer Beerdigung bewältigen. Aber ein Stück weit werden wir hier auch solches Verstehen und solches Annehmen einzuüben haben. Und der Abschnitt aus dem Hebräerbrief kann uns gerade dort, wo wir mit unserem Verstehen und mit unserem Annehmen nicht zurechtkommen, ein Stück weiterhelfen.
Verstehen, das heißt ja nicht nur: Zurechtkommen mit dem, was da am Montag früh geschehen ist, mit diesem Sterben, mit diesem Tod! Verstehen, das hieße doch: Diesen Tod mit dem Leben, das er beendet hat, in einer Verbindung sehen. Denn das Leben gehört genauso, es gehört viel mehr noch als dieser Tod zur Erinnerung an die Verstorbene, auch wenn jetzt das Sterben in unserem Nachdenken das Leben zu überschatten droht.
Ich nenne einige Stationen dieses Lebens: [...]
Verstehen, das hieße jetzt zusammenbringen und verknüpfen, was als Leben und Tod dieses Menschen zusammengehört. Jeder versucht das, die sie nicht gekannt haben, wie ich, und erst recht die, die sie gekannt haben. Und je besser ihr die Verstorbene gekannt habt, desto dringlicher wird ja die Aufgabe eines solchen Verstehens. Wie gehört das Leben der Schwester zusammen mit diesem Tod? Das Leben der Mutter, der Gattin?
Sicher kann der Hinweis auf ihre schwere seelische Krankheit dieses Verstehen ein Stück weit erleichtern. Vor langem schon, vor dreiundzwanzig Jahren hat sich diese Krankheit zum ersten Mal offen gezeigt; und sie ist dann immer wieder einmal gekommen, wie in den letzten Wochen. Aber sie ist dann auch wieder gegangen, und so habt ihr es auch diesmal erwartet, habt nicht erwartet, dass es anders kam. Dass sie diesmal nicht mehr überwunden werden konnte, die Depression, die Angst – grundlose Angst, sagen wir; aber was heißt das für den, der in solcher Angst drin ist? Dass sie diesmal überwältigt wurde von dem Gefühl der Ausweglosigkeit, wie es für diese Krankheit kennzeichnend ist.
Freilich geraten wir auch auf diesem Weg des Verstehens rasch an unsere Grenzen. Wir wollen zusammenfügen, was doch so schlecht zusammenpasst, dieses Leben und dieses Sterben. Und weil es so schlecht zusammenpasst, darum geht das Fragen dann weiter:
Musste es eigentlich so kommen? Was ist schuld daran, dass es diesmal anders gegangen ist als sonst, wenn sich die Krankheit zeigte? Hätten wir es anders machen müssen? Hätte sie nicht doch begreifen können, dass wir zusammengehören und beisammenbleiben müssen? So mag eure Frage lauten, liebe Leidtragende. Und wer von ein bisschen weiter weg zusieht, bei dem kann sogar die Frage hochkommen: Was war da eigentlich los, dass es so hart eingeschlagen hat in diesem scheinbar so wohlgeordneten Haus? Ich brauche das jetzt nicht weiter auszuführen. Wir wollen verstehen, müssen verstehen – und fragen danach, was schuld daran ist, dass wir es so schwer zusammenfügen können, dieses Leben und dieses Sterben. Sicher lässt sich diese Frage niederschlagen: Das ist eben „Schicksal“. Aber es kann und darf doch nicht alles eben Schicksal gewesen sein:
Das Liebe und Zuwendung, die Treue und Pflichterfüllung, die Sorge und die Güte. Das war doch nicht auch bloß Schicksal. Und es soll zusammenpassen, Leben und Sterben.
Hier können wir uns bei unserem Nachdenken ein erstes Mal Rat holen bei unseren Text. Von dem großen Hohenpriester ist da die Rede, von dem Mittler zwischen Gott und Menschen, von Jesus Christus, der die Himmel durchschritten hat.
Mit diesem Bild ist angezeigt, dass das, was für uns verschlossen ist, durch ihn geöffnet wird. Was wir nur schwer oder gar nicht zusammenbringen in unserem Verstehen, zu dem können wir „Gott“ sagen. Mehr, wie es hier heißt: Wir können hinzutreten mit Freudigkeit zu dem Thron der Gnade. „Er mach’s, wie’s ihm gefällt“!
Damit ist auf unserer Seite nicht einfach beieinander, was unserem Verstehen Not macht. Aber es ist uns erlaubt, diese Not abzugeben. Sie niederzulegen vor dem Thron der Gnade. Und darum auch und gerade hier, angesichts dieses Sterbens mit unserer Beerdigungsagende zu sagen: „Nachdem es dem allmächtigen Gott gefallen hat, unsere Schwester xxx aus diesem Leben abzurufen, legen wir ihren Leib in Gottes Acker.“
Verstehen und Annehmen, das braucht Zeit. Er gibt uns diese Zeit, der die Himmel durchschritten, das Verschlossene geöffnet und uns Raum geschaffen hat vor dem Thron der Gnade. So, dass ihr, liebe Leidtragende, die Liebe und Güte, die euch Gott durch die Gattin, die Mutter, die Schwester zugewandt hat, dankbar annehmen könnt und zugleich die Not, nicht zu verstehen, das Gefühl der Ohnmacht, des Versagens und der Schuld, all dies Unbegreifliche ihm anbefehlen könnt.
Doch wir werden da im Nachdenken noch einmal ansetzen müssen. Es gilt anzunehmen, was da gewesen ist. Nicht nur gilt es, das Geschehene nun eben hinzunehmen, weil es sich sowieso nicht ändern lässt. Es gilt, gerade jetzt noch einmal und ausdrücklich den Menschen anzunehmen, den wir hier zur letzten Ruhe betten. Das gilt für uns alle, sicher in erster Linie für die, die ihr am nächsten gestanden sind. Aber doch nicht nur für sie.
Es gilt, diesen Menschen anzunehmen, so wie er gewesen ist, mit seinem Leben und mit seinem Sterben. Kann ich mich da hineindenken? Es gelten lassen, was war, Leben und Sterben, Liebe und Treue, die Arbeit und die Sorge – und diese Angst, die Schwermut, die sie in den Tod getrieben hat? Vielleicht kommen wir alle, jeder an seiner Stelle, ein Stück weit zu solchem Annehmen. Das ist dann nicht bloß jenes billige, scheinbare Verstehen, das alles verzeihen lässt. Es lässt vielmehr den Menschen in seiner ganzen Eigenart gelten, zu der alles gehört, was er war und getan hat. Wir kommen so sicher ein Stück weit dazu, die Verstorbene anzunehmen. Doch wir geraten auch da rasch an die Grenze, eine Grenze, die sie selbst wohl auch gespürt hat, gerade in den Tagen ihrer Krankheit: „Könnt ihr denn nachfühlen, wie mir zumute ist?“ Wir können’s nicht!
Es ist gut, dass wir, mit unserem bruchstückhaften Verstehen, die Verstorbene anzunehmen, auch hier das weitergeben dürfen, womit wir nicht zurechtkommen. An ihn weitergeben dürfen, den Mittler zwischen Gott und uns, den Hohenpriester, der mitleiden kann, sympathein, mit unserer Schwachheit. Denn er gehört zu uns. Ich denke an seine Todesangst in Gethsemane, ich denke an sein Sterben, an dieses letzte Wort: Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Nun steht er da, vor Gott. Er nimmt dieses Leben an und dieses Sterben, mit dem wir so schwer zurechtkommen.
Verstehen und Annehmen: Was uns damit aufgegeben ist, das ist uns zugleich abgenommen. Das glauben wir. Das ist das Bekenntnis, an dem wir gerade dort festhalten dürfen, wo uns Hilfe not ist:
14 Weil wir denn einen großen Hohenpriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis.
15 Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mitleiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde.
16 Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.
Amen.