Röm 13,8-10
04.02.1952 (4. Sonntag nach Epiphanias), Thomaskirche
Chor: Der Morgenstern
EG 41,1-4 Jauchzet ihr Himmel
Chor: Die helle Sonn’
EG 232,3 Gib mir durch dein Barmherzigkeit
EG 232,4 Ehr sei Gott in dem höchsten Thron
3.Mose 19, 1.2.11-18
Röm 13,8-10
Liebe Gemeinde,
wir sind doch sicher alle miteinander, wie wir hier sitzen, rechtlich denkende Menschen, die sich klar darüber sind, dass man keine Verpflichtung, sei es im Geschäftsleben oder im gesellschaftlichen Verkehr oder auf irgend einem anderen unserer Lebensgebiete, eingehen darf, wenn man sich von vornherein darüber klar ist, dass man dieser Verpflichtung später nicht nachkommen kann. Durch uns soll niemand zu Schaden kommen, niemand soll um das Seine gebracht werden. „Ich habe niemand Unrecht getan“ – das ist unser Stolz, der sich in dem bürgerlichen, selbstbewussten Grundsatz äußert: „Tue recht und scheue niemand.“ Ganz genau das Gleiche meint der Apostel Paulus, wenn er sagt: „Seid niemand nichts schuldig!“ Dass wir unseren Verpflichtungen nachkommen, liebe Gemeinde, das gehört zu den Selbstverständlichkeiten unseres Christenlebens – genauso wie das, dass wir uns die Haare kämmen und nicht ungewaschen herumlaufen. Es ist schlimm genug, wenn solche Dinge im allgemein menschlichen Zusammenleben nicht mehr selbstverständlich sind, doch es lohnt sich wirklich nicht, mehr von solchen menschlichen Verpflichtungen zu reden, die wir je und je eingehen in größerem oder geringerem Ausmaß, als es Paulus in seinem kleinen Sätzlein tut: „Seid niemand nicht schuldig.“ Doch darauf kommt es dem Apostel Paulus ja gar nicht an in unserem Textabschnitt. Er redet von einer Verpflichtung, auf die allein es im letzten Grunde ankommt in unserem Leben und Tun – von der Verpflichtung Gott gegenüber.
1. Von dieser Verpflichtung Gott gegenüber gilt einmal: Wir sind diese Verpflichtung nicht selber eingegangen, und doch stehen wir alle miteinander ganz unter dieser Verpflichtung. Ja, aber kann uns denn eine Verpflichtung binden, die wir gar nicht selber eingegangen sind? So sind wir nun zuerst wohl versucht zu fragen. Aber seht – es gibt doch schon im rein irdischen Bereich solche Verpflichtungen, die wir nicht selber eingehen und die uns doch binden, manchmal in ganz besonderer Weise. So etwa die Verpflichtung gegenüber dem Volk und Staat, in die wir hineingeboren wurden, oder die Verpflichtung unseren Eltern gegenüber. Das sind Verpflichtungen, die wir nicht selber eingegangen sind, und doch binden sie uns mehr als etwa ein geschäftlicher Vertrag, unter den wir unsere Unterschrift gesetzt haben. Und es ist auch sehr viel schwieriger, solchen Verpflichtungen, etwa gegenüber unserem Volk oder unseren Eltern nachzukommen, als die genau festgelegten Bedingungen eines geschäftlichen Vertrags einzuhalten.
Und nun sollten wir gar Gott gegenüber verpflichtet sein? Verpflichtungen sind meist etwas nicht ganz Angenehmes, und man möchte sich ihrer möglichst schnell entledigen. Man möchte frei sein, ungebunden, und dies Verlangen ist gerade bei uns Jungen besonders stark. Darum hören wir gar nicht gerne, wenn zu uns geredet wird von Verpflichtungen. Am liebsten würden gar nicht darauf hören. Und wenn sie nun schon einmal da sind, diese lästigen Verpflichtungen, dann her damit, dass wir ihnen möglichst schnell nachkommen, damit wir dann endlich frei sind und tun können, was uns passt. Geht es nicht allen, den Alten wie den Jungen, so, dass diese Verpflichtungen, denen wir nachkommen sollen, so etwas sind wie die lästigen Schularbeiten, wenn draußen der herrliche Schnee lockt – möglichst schnell weg damit! Und so genau kommt es ja nicht darauf an, denn die Hauptsache ist doch, dass wir zu unserem Vergnügen kommen!
Liebe Gemeinde! Wie steht es mit unserer Verpflichtung Gott gegenüber? Können wir die auch so geschwind erledigen, wie wir früher unsere Schularbeiten erledigt haben? So erledigen, dass wir dann mit gutem oder vielleicht auch mit nicht ganz so gutem Gewissen das tun können, was uns gerade passt? Warum sind wir eigentlich Gott verpflichtet, und wozu sind wir ihm denn verpflichtet? Das haben wir alle miteinander im Konfirmandenunterricht gelernt: „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter beschert, mich mit aller Notdurft und Nahrung dieses Leibes und Lebens reichlich und täglich versorgt, wider alle Fährlichkeit beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahrt. Und das alles aus lauter väterlicher, göttlicher Güte und Barmherzigkeit, ohn’ all mein Verdienst und Würdigkeit; des alles ich ihm zu danken und zu loben und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin. Das ist gewisslich wahr.“
Dass wir leben, dass Gott uns unser Leben geschenkt hat und dass er dies Leben täglich neu erhält – das ist der Grund unserer Verpflichtung ihm gegenüber. Und weil es wir selber sind, der ganze Mensch, Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne, dazu Kleider und Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Äcker, Vieh und alle Güter - weil wir alles Gott verdanken, was wir sind und haben – darum erstreckt sich unsere Verpflichtung Gott gegenüber auch auf dies alles. Wir können nicht sagen: Lieber Gott! Nun habe ich dieses Jahr meine 40 Mark Kirchensteuer bezahlt, und fast jeden Sonntag bin ich schon um dreiviertel neun Uhr aufgestanden, damit es noch in die Kirche reichte, und im Kirchenchor singe ich auch mit, oder ich bin doch immer in der Jungschar-Stunde oder im Jugendkreis – damit kannst du dich doch zufriedengeben! Dann kannst du mich wenigstens in Ruhe lassen, es gibt ja so viele, die nicht einmal das tun.
Liebe Gemeinde! Eigentlich brauchte ich es gar nicht zu sagen, denn wir spüren es ja selber ganz genau: So geht es nicht. So können wir uns unserer Verpflichtung Gott gegenüber nicht entledigen. Danken, loben, dienen, der Gehorsam Gott gegenüber, diese Verpflichtung müsste eigentlich unser ganzes Leben, all unsere Gedanken, Worte und Taten beherrschen. Aber nein. Wir sehen doch Gott nicht, und braucht er denn überhaupt unseren Dienst, genügt es nicht, wenn wir ihm gegenüber ein frommes Gefühl der Dankbarkeit und Liebe in uns erwecken, das in unserem Gebet Worte findet und dem wir uns im sonntäglichen Gottesdienst der Gemeinde ganz hingeben können? Nein! Das ist wohl gut und richtig, aber der Verpflichtung Gott gegenüber sind wir damit noch lange nicht nachgekommen in der Weise, wie er es von uns verlangt. Wir sind diese Verpflichtung nicht selber eingegangen, ja, aber wir stehen alle miteinander in dieser Verpflichtung, die alles umfasst, was wir sind und haben!
2. „Gott, der die Welt gemacht hat und alles, was darinnen ist, er, der ein Herr ist Himmels und der Erde, wohnt nicht in Tempeln, mit Händen gemacht; sein wird auch nicht von Menschenhänden gepflegt, als ob er jemandes bedürfe, so er jedermann Leben und Odem allenthalben gibt“. Weil Gott unseres Dienstes nicht bedarf – sind wir darum der Verpflichtung gegen ihn ledig? Nein! Gott hat uns einen Stellvertreter gegeben, dem unser Dienst gehören soll, der ihm zukommt. Mit diesem Stellvertreter Gottes, an den wir gewiesen sind, wenn wir uns fragen, wie wir unserer Verpflichtung Gott gegenüber nachkommen sollen, meint die Bibel den Nächsten. Das ist der Dank, der Dienst, der Gehorsam, der Gott, unserem Schöpfer zukommt, dass wir unser Leben nicht als unser Eigentum betrachten, mit dem wir anfangen könnten, was uns passt – sondern dass wir es betrachten als ein geliehenes Gut, das wir einsetzen sollen zum Dienst an unserem Nächsten. Wie soll das im Einzelnen geschehen? Auch in dieser Frage lässt uns Gott nicht allein. Er gibt uns sein Gesetz, das das Zusammenleben unter den Menschen regeln soll. Dies Gesetz hat seine deutlichste und bekannteste Ausprägung empfangen in den Zehn Geboten, die wir ja alle kennen. Aber dies Gesetz erschöpft sich nicht in den Zehn Geboten allein, es geht nicht an, dass wir sagen: Ich habe Vater und Mutter die schuldige Ehre erwiesen, ich habe keinen totgeschlagen, ich habe meine Ehe rein gehalten, ich habe nicht gestohlen – also ist es mit mir in Ordnung, ich bin meiner Verpflichtung gegen Gott – und gegen Gottes Stellvertreter, gegen meinen Nächsten – nachgekommen, mir kann niemand etwas anhaben, auch Gott selber nicht. Wer so redet, der hat noch nicht erkannt, was für eine schwierige Sache es mit dem Gesetz Gottes, mit unserer Verpflichtung unserem Nächsten gegenüber ist. Seht: gar zu gern begnügen wir uns doch damit, das wir das, was in Gottes Gesetz verboten ist, unterlassen; aber nun wirklich unser Leben in den Dienst des Nächsten zu stellen – das ist so schwer, und deshalb warten wir damit lieber noch eine Weile zu! Wer ist er denn überhaupt, dieser Nächste? Das ist eine alte Frage. Schon jener Schriftgelehrte im Evangelium hat sie gestellt. Und wir kennen alle die Antwort, die Jesus gegeben hat. Es ist ein Gleichnis von dem Mann, der auf der Straße zwischen Jerusalem und Jericho unter die Mörder gefallen war, und der nun die Menschen vorübergehen sieht: den Priester und den Leviten, die nur an ihre eigene Rettung denken, die ihn liegenlassen, bis dann endlich der verachtete Samariter kommt und sich seiner annimmt.
Liebe Gemeinde! Eine Antwort kann ich euch auch nicht geben: Wer ist denn mein Nächster, dem nun gerade ich zum Dienst verpflichtet bin? Gott selber legt dir seinen Stellvertreter an den Weg, diesen deinen Nächsten. Aber dann kümmere dich auch um ihn – sei dir deiner Verpflichtung bewusst – und warte nicht, bis ein noch Näherer deine Weg kreuzt. Unsere Verpflichtung Gott gegenüber ist eine Verpflichtung gegen unseren Nächsten. Ihm sollen wir die Liebe erweisen, die wir Gott, unserem Schöpfer schuldig sind. Seid niemand nichts schuldig, denn dass ihr euch untereinander liebet, denn wer den anderen liebt, der hat das Gesetz erfüllt.
3. Liebe Gemeinde! Ihr könnt mich nun fragen: Was redest du denn so viel von unserer Verpflichtung und von unserem Nächsten und von der Liebe! Sag doch einfach, was wir im Einzelnen zu tun und zu lassen haben, damit wir doch endlich wissen, woran wir sind Gott gegenüber! Auf diese Frage muss ich euch die Antwort schuldig bleiben. Was jeder unter euch zu tun hat, das muss er selber wissen. Und er wird es auch wissen, wenn er sich vor Gottes Angesicht ernstlich prüft.
Aber vielleicht geht ihr mit euren Fragen auch noch weiter: Ihr werdet mir sagen: Dass ich Gott, dass ich meinem Nächsten zu Liebe verpflichtet bin, das weiß ich ganz genau, dessen überführt mich mein Gewissen immer wieder von Neuem. Ihr werdet mir sagen: das Gesetz Gottes steht vor uns wie ein riesengroßes Gefäß, das ich mit meiner Liebe füllen soll. Und woher soll ich diese Liebe nehmen? Liebe kann man doch nicht anbefehlen!
Liebe Freunde, lasst euch nicht in die Verzweiflung treiben. Wenn uns auch unser Gewissen vor Gott verklagen will, seine Liebe ist größer als unser Herz. Schaut auf den Gekreuzigten, ihn, der allein Gottes Gesetz erfüllt hat, ihn, dessen Leben ein einziges, überströmendes Lieben gewesen ist. Lasst euch hinein nehmen in seine Liebe, mit der er uns vor allem unserem Lieben geliebt hat, so werdet ihr es erfahren, was er uns verheißt: Mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.
Liebe ist des Gesetzes Erfüllung! Lasst uns lieben – das ist die einzige Verpflichtung, auf die es ankommt in unserem Leben! Dazu helfe uns der allmächtige Gott, der uns geliebt hat ehe wir gewesen sind, und der uns seiner großen Liebe verpflichtet hat in Jesus Christus, seinem Sohn! Amen.
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