Tit 2,11-14
24.12.1957 (Christvesper), Wolfenhausen/Nellingsheim

EG 27,1-6 Lobt Gott, ihr Christen alle gleich
Chor
EG 37,4 Ich steh an deiner Krippen hier
EG 39,7 Kommt und lasst uns Christus ehren
Chor

Lk 2,1-20
Tit 2,11-14

Liebe Gemeinde!
Nun ist es wieder Christtag geworden. Der Lichterbaum erstrahlt in seinem hellen Glanz. Wir singen die schönen, altvertrauten Weihnachtslieder. Und wir haben wieder das wundersame Evangelium von der Geburt unseres Heilandes im Stall zu Bethlehem gehört. Was ist es denn wohl, das uns an diesem Fest so ganz besonders anzieht? Was unsere Herzen weich macht, was unsere Sinne allem Guten und Schönem an diesem Tage so besonders aufschließt? Ist es nicht so, dass dieses Fest in seiner ganzen Gestalt, so wie es durch die Jahrhunderte hin geworden ist, der Sehnsucht unseres menschlichen Herzens in ganz besonderer Weise entgegenkommt? Der Sehnsucht unseres Herzens, das nicht immer stark sein will. Das nicht immer hart und kämpferisch sein will. Das nicht immer in dem Kampf des Lebens sich durchsetzen möchte. Dieses Herzens, das vielmehr Ruhe sucht; das Frieden sucht und Geborgenheit. Dieses Herzens, das wohl bei uns allen irgendwo ein Kinderherz geblieben ist. Das getragen sein möchte. Das Schutz suchen möchte in den Armen eines Stärkeren, Schutz suchen vor aller Härte, vor allem Kampf, vor aller Bedrohung, dem Leid und der Not, die unser menschliches Leben mit sich bringt. Ruhe, Frieden, Geborgenheit, - das ist die Sehnsucht dieses unseres menschlichen Herzens. Darum wohl ist Weihnachten in so ganz besonderer Weise das Fest, das  uns bewegt, das uns anspricht, weil wir es feiern als das Fest des Friedens und der Geborgenheit. – Darum feiern wir ja Weihnachten ganz besonders als das Fest der Familie. Denn im Kreis der Familie, da, wo einer für den anderen einsteht, da, wo wir miteinander verbunden sind durch Bande des Blutes und der Liebe, da spüren wir wohl am ehesten etwas von der Geborgenheit und dem Frieden, nach welchem unser Menschenherz solche große Sehnsucht hat. Wir feiern Weihnachten als das Fest der Familie – und feiern es als das Fest des Friedens. Aber welch ein schwaches und bedrohtes Geschöpf ist doch der Friede in dieser Welt. Ist es nicht ein deutliches Zeichen, was das für ein Friede ist, wenn ausgerechnet in der Weihnachtsausgabe der Zeitung davon zu lesen ist, dass die Amerikaner im nächsten Jahr Spezialeinheiten nach Europa verlegen werden, die mit Mittelstreckenraketen ausgerüstet sind, um diesen Frieden in unserer Welt zu schützen. Was ist das für ein armseliger, gebrechlicher und bedrohter Friede, der mit Raketen geschützt werden soll. Und doch können wir nicht dankbar genug sein für diesen Frieden! Seht, unser Herz hat in sich diese große Sehnsucht nach Ruhe, nach Frieden und Geborgenheit. Darum ist es an Weihnachten so besonders weich und aufgeschlossen. Denn Weihnachten, das verheißt ja diese Geborgenheit. Haben die Engel es nicht in der Weihnachtsnacht gesungen: „Friede auf Erden“? Sollte das nicht doch endlich einmal unter uns wahr werden?
1. Doch nun sind wir ja heute am Weihnachtsfest nicht zusammengekommen, um allein von unserem menschlichen Herzen und von seiner Sehnsucht nach Ruhe, nach Frieden und Geborgenheit zu reden. Vielmehr: Wir sind zusammengekommen, um heute am Christtage wieder neu uns Gottes Wort sagen zu lassen, was Gott uns in seinem Sohn, in unserem Heiland Jesus Christus geschenkt hat. „Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen“, so schreibt es der Apostel und weist uns damit allesamt dorthin, wo unser Herz wirklich Ruhe, Frieden und Geborgenheit finden kann! Seht, in vielen, gerade modernen Darstellungen der Weihnacht, da wird uns das Bild der Mutter gezeigt, die ihr Kind auf dem Arm trägt, die es in ihrem Schutz birgt. Aber eigentlich sollten wir es doch genug umgekehrt sehen: Nicht die Mutter ist ja die, welche schützt und birgt, sondern das Kind in der Krippe, der Heiland, der Erlöser, der ist es, der uns Frieden und Geborgenheit bringen will und bringen kann.
Freilich, hier werden wir nun gezwungen sein, umzulernen. Werden wir gezwungen sein, alle unsere weltlichen Vorstellungen und Maßstäbe einmal beiseitezulassen, und uns ganz und gar in das Geheimnis der göttlichen Wirksamkeit hineinzuversetzen. Das ist es ja, was seit eh und je dem menschlichen Denken so hart und unverständlich vorgekommen ist, dass Gott sich ganz anders aufgemacht hat, um der Welt seine heilsame Gnade zu schenken, als das unserem Rechnen entspricht. Wir dächten eigentlich, und denken das doch immer noch: Um dieser Welt den Frieden zu bringen, da braucht es Macht, eine Macht, die zumindest gleich stark ist oder besser noch stärker als die Mächte, die den Frieden bedrohen können. Wir haben es ja wieder erlebt in diesen Tagen, wo die Zeitungen voll waren von den Berichten über die Pariser NATO-Konferenz, dieses Ringen um Macht und Rüstung, die den Frieden erhalten soll. So denken wir Menschen: Um der Welt den Frieden, die Ruhe und Geborgenheit zu schenken, nach der unser Herz verlangt, da braucht es eben Macht, Gewalt, die das Böse in Schach hält oder besser noch ganz vernichtet. So denken wir Menschen. Aber der allmächtige Gott denkt ganz anders: Als er erschienen ist, um dieser armen, gequälten Welt seine heilsame Gnade zu schenken, um in dieser Welt sein Reich des Friedens aufzurichten, da hat er nicht die himmlischen Heerscharen aufgeboten, um die zu bezwingen, die sich seinem Willen widersetzen. Freilich, diese himmlischen Heerscharen sind erschienen. Aber nur die Hirten auf dem Felde vor Bethlehem haben sie gesehen. Und diese Engel trugen nicht feurige Schwerter in ihren Händen, sondern sie sangen das Lied des Friedens: „Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen.“
Seht, liebe Freunde! So sieht es aus, wenn Gott am Werk ist. Da hat all unsere menschliche Klugheit ihr Recht verloren, die behauptet, man müsse der Gewalt eben mit Gewalt begegnen. Da hat all unser Rechnen und Denken keinen Platz mehr, das meint, man müsse sich eben auf die Gegebenheiten dieser Welt einstellen, sonst sei alles Bemühen umsonst. Gott denkt anders! Gott rechnet anders! Er ist erschienen, um der Welt den Frieden zu bringen. Aber er ist nicht erschienen mit Macht und Gewalt, um die Völker in sein Friedensreich zu zwingen. Er ist gekommen als ein kleines Kind. „Das hat also gefallen dir, die Wahrheit anzuzeigen mir, wie aller Welt Macht, Ehr’  und Gut vor dir nicht hilft, nichts gilt noch tut.“ Doch werden wir das begreifen, liebe Freunde? Können wir anders rechnen als mit unseren weltlichen, menschlichen Maßstäben? Können wir die heilsame Gnade wirklich begreifen und ergreifen, die in diesem Kindlein in der Krippe uns erschienen ist? Erfassen wir es, dass hier der Macht des Hasses und des Unfriedens und der Vergeltung ein ganz entscheidender Schlag versetzt wurde? Begreifen wir, was das heißt, dass Gottes Macht ganz anders ist als alle Mächte der Welt? Dass seine Friedensmacht nicht in dem kriegerischen Gewand einher schreitet wie die angeblichen Friedensmächte unserer Welt, denen wir trotz aller wechselseitigen Beteuerungen ihrer friedlichen und rein defensiven Absichten nicht so recht glauben? Gottes Macht ist anders als diese Mächte der Welt. Darum ist sie vor den Augen der Welt verborgen. Darum sieht sie, mit den Augen der Welt gesehen, mit den Maßstäben der großen Politik gemessen, wie erbärmliche Ohnmacht aus. Denn was ist ohnmächtiger als ein neugeborenes Kind? Und gerade dies Kind ist doch der, der der Welt den Frieden bringt. Und was ist denn aus diesem Kind geworden? Auch darauf weist uns der Apostel ja heute hin: Der sich selbst für uns gegeben hat, der am Kreuz gestorben ist. So erscheint Gottes Gnade unter uns, liebe Freunde! Der große Gott – ein kleines Kind; der allmächtige Herr – verborgen in der tiefsten Ohnmacht und Ungeborgenheit. Seht, dies müssen wir begreifen, dann haben wir erst begriffen, was uns alle Weihnachtslichter, alle Geschenke, alle weltliche und fromme Betriebsamkeit nicht lehren können. Dann erst wissen wir ganz, was Weihnachten ist.

2. Doch nun redet der Apostel heute ja nicht nur davon zu uns, dass die heilsame Gnade Gottes erschienen ist. Er redet nicht nur davon, dass Gott selber sich aufgemacht hat, um der Welt und unseren Menschenherzen die Ruhe, Geborgenheit, den Frieden zu schenken, nach denen sie so sehr verlangt. Sondern er redet nun davon, wie diese Gnade auf jeden Einzelnen von uns ganz persönlich zukommt. „Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen, und züchtigt uns, dass wir sollen verleugnen das ungöttliche Wesen und die weltlichen Lüste und züchtig, gerecht und gottselig leben in dieser Welt.“ Sehr, liebe Freunde, es genügt nicht, wenn wir an Weihnachten unser Herz erbauen lassen von dem Christuskinde, das im Krippelein liegt, und doch der große König und der Herr aller Herren ist. Es genügt nicht, dass wir die Sehnsucht unserer Herzen ihm entgegentragen, dass wir verlangen nach dem Frieden, der Ruhe, der Geborgenheit, die uns dort, bei unserem Heiland und Erlöser, werden kann. Vielmehr: Wir sind nun miteinander aufgerufen, unser ganzes Leben auf dieses Kind zu stellen. Wir sind miteinander aufgerufen, nun selbst zu Trägern seiner Macht und seines Friedens zu werden. Das heißt zunächst einmal so viel: Wir sollen es lernen, so zu rechnen, wie Gott rechnet. Wir sollen es lernen, seine verborgene Macht zu erkennen und anzuerkennen und höher zu achten als alle Macht der Welt, die wir vor Augen haben. Der Apostel redet davon, dass wir verleugnen sollen das ungöttliche Wesen und die weltlichen Lüste. Damit ruft er uns zu: Lasst doch euren Irr- und Aberglauben fahren, der meint, nur das sei eine Wirklichkeit in dieser Welt, was ihr sichtbar vor Augen habt. Lasst doch euer Sorgen, euer Rennen und Hasten fahren, das meint, alles mitmachen zu müssen, um ja nicht zu kurz zu kommen in dieser Welt. Lasst doch eure Angst und eure Gier fahren, die meint, das Leben sei doch so arm und so kurz, und darum müsstet ihr sehen, doch mit aller Gewalt möglichst viel aus diesem Leben herauszuholen. Seht, liebe Freunde, das ist doch das elende und erbärmliche Grundübel, an dem wir alle miteinander kranken: Dass wir so sehr gut rechnen können. Rechnen mit unserer Zeit. Rechnen mit unserem Geld. Rechnen und rechten um unsere Ehre, um das, was uns zusteht. Rechnen und rechten um Macht und Einfluss und Ansehen. Das können wir alle, können es nur zu gut, liebe Freunde! Und darum haben wir es so schwer, die Weihnachtsbotschaft richtig zu verstehen. Darum ist es nötig, dass uns Gottes Gnade immer neu züchtigt, immer neu in Zucht nimmt und zurechtweist. Uns immer neu unser menschliches Rechnen und Rechten verbietet. Uns immer neu lehrt, so zu rechnen, wie Gott rechnet, der sich selbst für uns gegeben hat! Dazu feiern wir Weihnachten, um das wieder einmal ganz klar und deutlich zu hören, ja mehr, um es vor Augen zu sehen, wenn wir das Kind in der Krippe betrachten: Gott ist uns nahe mit seiner Gnade und mit seinem Frieden, mit seiner Ruhe und mit seiner Geborgenheit, wenn wir nur die richtigen Augen dafür haben. Wenn wir es lernen, das ungöttliche Wesen zu verleugnen, wenn wir es lernen,  im Großen wie im Kleinen, nicht mehr in unserer weltlichen menschlichen Weise zu rechnen und zu rechten, sondern so zu leben, wie das Gott von uns haben will. Dann werden wir den wahren Weihnachtsfrieden in unseren Herzen verspüren, den Frieden, den uns niemand nehmen kann. Denn dann ist unser Leben ja nicht auf die Welt gebaut und auf das, was diese Welt geben und nehmen kann, sondern dann leben wir ja in der Hoffnung auf den unsichtbaren Gott, sind wir, wie der Apostel schreibt, Menschen, „die warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilandes Jesu Christi.“ Amen.