16. n Trinitatis, 29. September 1963 Wolfenhausen/Nellingsheim
336,1-4 All Morgen ist ganz (8)
280, 1-4 Was mein Gott will (243)
294,6.7 Befiehl du deine Wege (107)
207, 3.4 Ach bleib bei uns (65)
Römer 5, 1-5
Klagelieder
3,31-39
Herr Gott, himmlischer Vater!
Wir bitten dich: Hilf du uns, die du berufen hast, dir zu
dienen und deine Wahrheit zu bezeugen. Wir sind schlechte Diener gewesen. Oft
haben wir dich vergessen und deinen Auftrag. Wir haben die Menschen laufen
lassen, die wir doch nach deinem Willen zu dir führen sollten. Wir haben es an
der Liebe fehlen lassen, die auf den anderen eingeht.
Herr, mit Recht strafst du uns. Warum sind deine Häuser so
leer? Warum sehen wir so wenig von der Kraft deines Wortes? Warum sind wir so
müde? Lass uns dadurch unsere Schuld erkennen!
Herr, wir bitten dich: Lass uns einkehren bei dir. Gib uns
Eifer und Einsicht, deinen großen Namen zu erkennen. Herr, auf dich hoffen wir
– du wirst uns nicht verlassen um Jesu Christi willen. Amen
Liebe Gemeinde!
Meint ihr nicht, es sei auch bei uns an der Zeit, dass wir
ein Klagelied anstimmen, wie die damals zur Zeit des Propheten Jeremia? Natürlich
hätte jeder von uns dies oder das, worüber er auch noch klagen könnte. Aber
dies alte Klagelied verweist uns auf die gemeinsame Klage. Damals haben sie
geklagt darüber, dass der Tempel verfallen war, haben geklagt darüber, dass
das Gottesvolk so übel dran war, besiegt, seiner Freiheit beraubt, haben geklagt
darüber, dass so viele in die Gefangenschaft weggeschleppt waren. Diese Klage
über das alte Gottesvolk, das so traurig daran war, verweist uns auf das neue
Gottesvolk und auf seine Lage.
Nun kann man natürlich sagen, dass die Kirche bei uns doch
gewiss nicht so traurig dran ist. Der Pfarrer hat eine geachtete Stellung in
der Gemeinde – genauso wie unser Staat sich den Kirchen gegenüber sehr
zuvorkommend verhält. Es ist Geld da, die Gotteshäuser werden gebaut und
renoviert; in den Schulen wird in Religion unterwiesen, und jedermann hält
wenigstens so viel von der Kirche, dass er seine Kinder taufen und konfirmieren
lässt, und dass er bei der Trauung und bei der Beerdigung den Pfarrer gerne
dabei haben möchte. Ich könnte noch manches anführen, das dafür spricht, dass
es der Kirche heutzutage unter uns doch eigentlich recht gut geht.
Aber ist das nicht alles doch nur ein schöner Schein –
während es in Wirklichkeit ganz anders aussieht? Um bei dem Einfachsten
anzufangen: Was hilft der schönste Kirchenbau, wenn er dann doch fast leer ist?
Wo sind die Menschen, die wenigstens dem Namen nach zur Kirche gehören? Die mit
ihrer Kirchensteuer das Geld aufbringen, das die Kirche hat? Die einmal getauft
und konfirmiert worden sind – und dann eben davonlaufen?
Wem bedeutet denn der Glaube noch etwas? Wo merkt man denn
etwas davon, dass Sonntag für Sonntag auf tausenden von Kanzeln gepredigt wird
in unserem Land? Ist der Anspruch der Kirche, als eine Macht in unserer
Öffentlichkeit respektiert zu werden, nicht hohl und nichtig, weil die
Menschen, die zur Kirche gehören sollten, und die diesen Anspruch doch zu
allererst vernehmen sollten, sich darum überhaupt nicht mehr kümmern?
(Missachtung des ... Sonntagschutzgesetzes!) Sieht es nicht
fast so aus, als ob es auch ohne Kirche ginge – so, dass nur ein kleiner Anstoß
genügte, um das ganz Kirchenwesen, das auf den ersten Blick so sicher
dazustehen scheint, in sich zusammenstürzen zu lassen.
Gerade der, dessen Herz an seiner Kirche hängt, wird das am
ehesten merken. Gerade er wird erschrecken vor so viel Gleichgültigkeit auf der
einen Seite, und vor so viel Routine und Betrieb auf der anderen Seite. Gerade
er wird leicht von Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit erfasst werden, dass er
sich sagt: Dieser Kirche ist nicht mehr zu helfen. Ich will mich still
zurückziehen, und vielleicht in einem kleinen Kreise Gleichgesinnter meines
Glaubens leben.
Aber den Schaden Josephs, den kann ich doch nicht heilen.
Mag es mit der Kirche gehen, wie es will – ich erwarte nichts mehr von ihr!
Liebe Freunde! Vielleicht ist das nun wieder ein wenig zu
düster gemalt. Aber ich meine doch, es treffe unsere Wirklichkeit schon, wenn
ich von dem ständigen Verfall hinter einer frisch verputzten Fassade rede –
auch dort, wo hinter dieser Fassade noch allerhand an guter, christlicher Sitte
zu finden ist, und statt der 5 ½ % Kirchenbesucher im Landesdurchschnitt noch
so gegen 20 % zu finden sind, wie das etwa hier der Fall ist. Woran liegt das?
Hören wir auf das alte Klagelied: Was hat ein Mensch zu
beklagen in seinem Leben? Jedermann seine Sünde. Daran liegt`s – an dem
Ungehorsam gegen Gottes Willen. Und recht klagen wir über die müde,
gleichgültige, hoffnungslose Kirche unserer Zeit, wenn wir unsere Sünde
beklagen. Es ist in dieser Woche ein Hirtenbrief der deutschen
römisch-katholischen Bischöfe veröffentlicht worden, in dem sie sich unter
anderem darüber beklagen, dass von katholischen Schriftstellern so viel
zersetzende Kritik an der römisch-katholischen Kirche geübt werde. Nun sollen
wir freilich nicht vor der katholischen Tür kehren, sondern vor unserer
eigenen. Aber da sollen wir gerade die Anklage, sollen wir die Kritik nicht
scheuen.
„Was hat ein Mensch zu beklagen in seinem Leben? Jedermann
seine Sünde!“ Das gilt gerade da, wo wir klagen über die Kirche, die so wenig
geistliche Kraft mehr hat. Sind wir nicht selber schuld daran? Hat sich die
Kirche nicht seit langem begnügt damit, den einzelnen Menschen und sein
Seelenheil in den Mittelpunkt ihrer Wirksamkeit zu rücken. Als ob es nicht um
Gott ginge, um Gottes Ehre, um seinen Willen, der auf Erden geschehen soll wie
im Himmel? Hat sich die Kirche um die Welt gekümmert – nicht um ihr
dreinzureden und Forderungen an sie zu stellen, sondern um ihr zu helfen? Ist
sie ernst genug gewesen in ihrem Wort? Hat sie den Leuten nicht viel zu sehr
nach dem Mund und zu Gefallen geredet, so dass schließlich der Eindruck
entstehen konnte, der Glaube sei etwas für ein Jenseits nach dem Tode, und da
werde sich Gott der Seele dann schon annehmen, während man in dieser Welt sich
eben nach dem Herren dieser Welt, nach dem Geld richten müsse? Hat die Kirche
es nicht vorgezogen, mit den herrschenden Mächten zu paktieren, statt sich der
Armen, der Verfolgten, der Unterdrückten anzunehmen? Hat sie sich nicht
einfangen lassen in einen muffigen, engen Lebensstil, so, dass man ein
christliches Mädchen an der Frisur erkennen konnte, und bei den jungen Leuten
der Eindruck entstanden ist, ein Christ sei ein Mensch, dem alles verboten ist,
was gemeinhin Spaß macht – und darum sei es doch besser, mindestens in der
Jugend einmal kein Christ zu sein. Ja – hat`s nicht am allereinfachsten gefehlt
– am Vertrauen und am Gebot – am Vertrauen, dass unser Gott wirklich der Herr
der Welt ist, und an der Einsicht, dass sein Gebot es gut mit uns meint, weil
es uns zu freien Menschen macht? Wo haben wir das recht vorgesagt, und recht
vorgelebt – so dass es einem Menschen auch wirklich einleuchten konnte? Darüber
müssen wir uns beklagen – über dies Versagen. Und werden dann gewiss nicht Gott
die Schuld geben – der doch auch anders könnte, der`s uns doch auch leichter
machen könnte, sondern werden zugeben, dass er`s gerade so will, um uns zur
Besinnung zu bringen, Denn wer will sagen, dass Solches geschieht ohne des
Herrn Geheiß? Geht nicht das Böse wie das Gute aus dem Munde des Allerhöchsten
hervor?
Freilich – es ist uns mit dieser Klage ja noch nicht
geholfen. Je mehr wir einsehen, wie wir dran sind, und je besser wir Schuld und
Versagen erkennen, desto mehr wir uns das klar werden: Es muss anders werden.
Wir verraten unseren Gott und seine Gnade, wenn wir so weitermachen, wie wir’s gewohnt
sind, oder müde unsere Hände in den Schoß legen, weil wir meinen, es könne ja
doch nicht mehr besser werden!
Freilich heißt das nun nicht, dass wir dies und jenes
ausprobieren, und immer noch mehr kirchlichen Betrieb veranstalten. Was da
alles geschieht, das wisst ihr wohl – aber damit ist uns nicht viel geholfen.
Wir werden vielmehr, so meine ich, ganz im Kleinen anfangen
müssen. Das Erste wäre da, dass wir damit aufhören, Kirche zu sagen, und dabei
andere zu meinen, die Pfarrer beispielsweise, oder die gewählten Vertreter der
Gemeinde, die kirchlichen Angestellten oder die Kirchenbehörden, die
Landesbischöfe oder wer immer das sein mag. Sondern dass wir begreifen: Zuerst
einmal bin ich gemeint, wenn es „Kirche“ heißt.
Das Andere, so meine ich, wäre dies, dass wir neu anfangen
damit, zu lernen; wissen wir denn Bescheid? Kennen wir Gott, seinen großen
Namen, sein Tun, seine Macht, seine Barmherzigkeit? Wissen wir, was in unserer
Bibel steht? Beten wir? Haben wir genug gelernt, um den, der uns nach unserem
Glauben fragt, gegründete Rechenschaft zu geben?
Und als Drittes – das eigentlich aus diesem Zweiten
hervorgehen müsste, will ich nennen: Haben wir selbst es nicht aufgegeben, zu
hoffen - und müssen das lernen – lernen, dass er nicht mit dem Herzen dabei
ist, wo er`s uns so traurig machen muss, sondern es in Wirklichkeit ganz anders
haben will?
Amen