Totensonntag 22. November 1959       Wolfenhausen/Nellingsheim

427,1-5      Die Gnade sei mit allen (29)

121,1-3      Wachet auf ruft uns (239)

248,4+5     Wehre meiner Sünd‘ (128)

464,3         Wir wolln uns gerne (268)

 

Jes 40,6-11

Lk 12,42-46

 

Liebe Gemeinde,

Totensonntag: Ein Wort, das in uns allen wehmütige Gefühle erweckt. Ein Tag, der uns erinnert an die Vergänglichkeit unseres Menschenwesens. Wir sehen, wie draußen in der Natur sich zum Sterben niederlegt, was gegrünt und geblüht hat; wie die Bäume ihre kahlen Äste in den nebligen Novemberhimmel recken: Es ist eine unverwechselbare Stimmung in diesem Tag, die heißt: Sterben und Vergehen. Aber es genügt nun ja wirklich nicht, wenn wir diese Stimmung einfach nennen, es reicht nicht zu, wenn wir uns dieser Stimmung heute an diesem Tage überlassen. Wir müssen begreifen, was das heißt: Vergänglichkeit. Was das heißt: Alles Fleisch ist wie Gras, und alle seine Herrlichkeit ist wie des Grases Blüte. Das Gras ist verdorrt, die Blüte ist abgefallen. Was das heißt: „Unser Leben währet 70 Jahre und wenn’s hoch kommt, so sind’s 80 Jahre, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist’s Mühe und Arbeit gewesen. Denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon.

Seht: Da ist unsere Zeit, unsere Lebenszeit; wir sind von ihr getragen, und doch zu gleich von ihr mit gerissen. Wir können ihre wohl tuende Macht erfahren, wenn diese Zeit die Wunden unseres Schmerzes heilt, wenn sie uns hilft, hinweg zu kommen über Vieles, was wir im ersten Augenblick meinten unmöglich ertragen zu können. Und wir können auf der anderen Seite erschrecken über diese Zeit, die uns selber mit reißt, die uns unserem eigenen Ende entgegen führt. Vergänglichkeit: Das ist es, was unser Herz heute am Totensonntag bewegt. Der Gedanke an das, was vergangen ist. An die Zeit, die wir hinter uns haben, die vorbei ist, mit Allem, was sie gebracht hat an Glück und an Unglück, an Leid und an Freude. Die Zeit, die vorbei ist, und die schon so viele Menschen mit sich gerissen hat, die wir nun vermissen. Zu denen heute unsere Gedanken hin wandern, wehmütig wegen des Verlustes, dem wir mit ihrem Tod erlitten haben, und den wir nun wieder heftig verspüren, da die Stimmung dieses Totensonntags uns auf diesen Verlust hinweist.

Freilich: Das darf nun nicht genügen, dass wir uns heut an diesem Tage eben Gedanken machen über unsere menschliche Vergänglichkeit. Vielmehr werden wir nun ganz klar und deutlich auf das Andere sehen müssen, das, was uns Jesus selber dazu zu sagen weiß: Er sagt uns, dass er der Herr ist, der Jedem von uns die Grenze setzt. Er sagt es in dem Gleichnis von den zwei Knechten, sagt es in einem Bild, das wir nun miteinander betrachten und deuten wollen. Der Herr, von dem da die Rede ist, das ist der Gott, welcher uns in dies Leben hinein gestellt hat; der Gott, der uns unsere Zeit gegeben hat, die zwanzig oder fünfzig oder siebzig Jahre, die wir schon durchlebt haben, und die unbekannte Zahl der Jahre, die wir noch zu leben haben. Zeit gibt uns dieser Herr. Seht, es ist schon ein wenig seltsam, wenn wir das betrachten, wie da die Schrift redet. Wir mit unserer Totensonntagstimmung, wir, die wir uns vom Hauch der Vergänglichkeit anwehen lassen an diesem Tage, wir sehen auf das, was uns genommen wird, sehen auf die Kürze der Zeit, sehen darauf, wie wenig Zeit wir doch im Grunde genommen haben. Jesus, der fragt nicht nach dem Wie viel! Wie viel Zeit habe ich? Wie viel Zeit bleibt mir noch? Sondern ihm genügt es festzustellen: Uns ist Zeit gegeben, gegeben von unserem Schöpfer, gegeben von Gott dem Herrn. Dies, dass uns Zeit gegeben ist, das ist ja im Bilde dadurch ausgedrückt, dass der Herr fortgegangen ist, der den Knecht in seinen Aufgabenbereich einsetzte. Und dass Zeit vergehen wird – wie viel Zeit, das weiß eben nur der Herr, bis dieser Herr wieder kommt. So ist es im Bild gesagt, was wir von Jesus gezeigt bekommen: Wir haben Zeit, von Gott gegebene  und von Gott begrenzte Zeit. Wohl uns, wenn wir nicht zu viel mit dieser Zeit herum rechnen, uns nicht zu viel überlegen, wie lange diese Zeit wohl noch dauert, was wir noch alles zu erwarten haben in dieser Zeit. Denn damit hat es ja bei jenem untreuen Haushalter angefangen, dass er meinte: „Mein Herr verzieht zu kommen“ – ich habe noch lange Zeit, in der ich selber Herr sein kann.

Nein! Das ist das Besondere, was Jesus uns mit seinem Gleichnis zeigt, und was wir heute am Totensonntag uns sagen lassen sollen: Wir haben Zeit, wir, die wir jetzt auf Jesu Wort hören, haben Zeit, und sollen uns gewiss keine selbstsicheren und auch keine zweifelnden und furchtsamen Gedanken machen, wie lange diese Zeit wohl noch dauern wird. Wir haben Zeit – Zeit von Gott unserem Schöpfer, und darauf einzig und allein kommt es an, was wir mit dieser Zeit anfangen, was wir aus dieser Zeit machen. Es kann sein, dass wir diese Zeit vertun. Dass wir sie verludern und veruntreuen und verschleudern, diese anvertraute Zeit, und am Ende bleibt uns nichts, gar nichts, was Bestand hat und Gewicht. Oder ob wir diese Zeit recht verwenden, sie so verwenden, wie das des Herrn Wille ist.

Das ist es, das allein, was uns Jesus mit seinem Gleichnis zeigen will: Dass wir begreifen, wie es gilt zu entscheiden, was wir mit unserer Zeit anfangen. Gewiss nicht nur einmal müssen wir darüber entscheiden, sondern diese Entscheidung, die wird uns immer wieder abverlangt. Aber verstehen sollen wir es, dass es darum geht, wie wir über unsere Zeit entscheiden. Ob wir es machen wie der ungetreue Knecht, der meinte: Jetzt habe ich doch endlich einmal richtig Zeit, Zeit für mich, Zeit um zu tun und zu lassen, was mir gefällt, Zeit, die ich recht ausnützen und genießen will! Zeit für mich: Das war die schlechte und falsche Entscheidung jenes bösen Knechtes und er musste bitter dafür büßen. Anders der treue und kluge Haushalter, von dem Jesus spricht. Der wusste: Ich habe jetzt, da der Herr fort gegangen ist und mir die Verantwortung dafür übertragen hat, dass sein ganzes Gesinde der Ordnung nach und zu rechter Zeit versorgt ist – jetzt bleibt mir gerade keine übrige Zeit für mich. Jetzt habe ich zu tun, Vieles zu tun!

Seht – es geht im Grunde um eine ganz einfache Entscheidung, so einfach, in vielen Dingen so selbstverständlich, dass wir sie vielleicht gar nicht bemerken. Dass wir ihre Tragweite vielleicht gar nicht gleich erfassen. Und doch geht es hier um das Wichtigste in unserem Leben. Ich sage: Es ist eine ganz einfache Entscheidung, ob wir unsere Zeit füllen wollen mit Gehorsam gegen den Herrn, der uns diese Zeit gegeben hat, oder mit Ungehorsam. Oft merken wir es sogar nicht einmal, wo der Gehorsam aufhört und der Ungehorsam beginnt. Lassen wir uns da doch von Jesus jenen klaren und eindeutigen Maßstab an die Hand geben, den er uns in seinem Gleichnis gebrauchen lehrt. Dass wir fragen: Wozu gebrauchst du deine Zeit? Ist es Zeit für dich? Oder ist es Zeit für andere?

Seht: Es könnte ja nun einer sagen: Und warum sollte ich meine Zeit denn nicht für mich verwenden? Wenn ich einmal tot bin, dann gibt mir keiner etwas dafür! Wir wollen dem nicht entgegnen, indem wir drohen, indem wir sagen: Dir werden schon noch einmal die Augen übergehen, du leichtfertiger Mensch! Wir wollen vielmehr an einigen Beispielen nur uns das vor Augen halten, was es heißt, Zeit zu haben für andere, Zeit so zu haben, wie sie Gott uns gegeben hat.

Seht: Wir brauchen da gewiss nicht weit zu gehen, um diese Anderen zu suchen. Da ist unser Ehegatte, da sind unsere Eltern, unsere Kinder. Freilich: Wir könnten es machen wie der böse Knecht, der seine Mitknechte und –mägde schlug. Könnten sagen: Für mich bist du da, mir sollst du gehorchen, mir sollst du tun, was ich haben will. Wir könnten so die Zeit missbrauchen, die Gott uns gegeben, und die Menschen missbrauchen, die uns in dieser Zeit zur Seite stehen. Aber was hätten wir davon? Was hülfe uns solches Tun? Wäre der nicht ein armer, erbärmlicher, bemitleidenswerter Mensch, der in seiner Familie nicht Liebe und Vertrauen findet, sondern nur Furcht und heimliche Missachtung. Wäre der nicht ein entsetzlich einsamer Mensch, der die Anderen nur für sich selber zu gebrauchen weiß, der nur seine eigene Bequemlichkeit, sein eigenes Wohlergehen, seine eigenen Vorteil bei ihnen sucht! Nein: Zeit für andere haben, das macht das Leben reich.

Was ist das doch für ein armer Tropf, der meint, seine Freunde, seine Kameraden seien nur dazu da, nach seiner Pfeife zu tanzen, ihn zu bewundern, zu machen und mit zu machen, was er für richtig hält. Ein armer Mensch, der nur sich selber kennt, und nicht weiß, was rechte Freundschaft ist, wo einer für den Anderen da ist.

Ich könnte lange so fortfahren, liebe Freunde! Begreifen wir das doch, begreifen wir es doch auf Schritt und Tritt, was es heißt, wenn Jesus uns zuruft: Nicht für euch habt ihr eure Zeit, sondern für Andere! Wir werden dann sehen können, welcher Reichtum uns gerade darin zuteilwird, dass wir wirklich Zeit für andere haben. Wir werden dann merken, wie wir gerade dadurch beschenkt werden. Wir werden dann erfahren, was das heißt, dass wir in dieser Welt unsere Aufgabe haben. Nicht der Vergänglichkeit unseres Menschenwesens wollen wir nachsinnen. Nein! Wir dürfen uns dankbar dessen erinnern, was wir gehabt haben. Und sollen dann daran denken, dass wir noch Zeit haben, uns darauf besinnen, wozu wir diese Zeit haben, und sie gebrauchen, indem wir einander dienen, solange es Tag ist, bis der Herr kommt, der unserer Zeit ein Ende setzt. Amen.