3. nach Trinitatis, 18. Juni 1961              Wolfenhausen/ Nellingsheim

 

144, 1-3     Herr, öffne mir    (102)

195, 1-3     Aus tiefer Not               (17)

188, 4        Nun lob mein Seel       (187)

147            O Gott und Vater         (76)

188, 5        Nun lob, mein Seel      (187)

 

1.Tim 1, 12-17

 

Lukas 15, 1-10

 

Liebe Gemeinde!

 

Vielleicht sollten wir, um diese Gleichnisse Jesu besser verstehen zu lernen, bei Jesu Gegnern in die Schule gehen, bei den Pharisäern und Schriftgelehrten. Vom denen heißt es hier, sie hätten über Jesu Verhalten gemurrt und hätten daran Anstoß genommen, dass er mit den Zöllnern und Sündern aß und trank. Wir, wir würden so etwas gewiss nicht so ernst nehmen. Wir würden uns daran vermutlich gar nicht aufhalten. Warum?

Weil wir sicher Gott nicht so ernst nehmen, wie das jene Gegner Jesu getan haben, und weil wir wahrscheinlich auch die Menschen, mit welchen wir es zu tun haben, nicht so ernst nehmen, wie das jene Männer taten. Für die war es nämlich, wenn sie es mit irgendjemand zu tun hatten, zunächst einmal die entscheidende Frage: Wie steht dieser Mensch zu Gott? Sieht er darauf, dass er mit Gott im Reinen ist? Sieht er darauf, dass er die Pflichten, welche ihm der Glaube auferlegt, gewissenhaft und sorgfältig erfüllt?

Wir würden wahrscheinlich anders fragen, wenn wir einen Menschen kennen lernten. Würden fragen: Ist er ein anständiger Kerl? Ist er hilfsbereit und verlässlich? Ist er gefällig und ein fröhlicher Mensch – und würden danach uns in unseren Verhalten einen solchen Menschen gegenüber einrichten. Die Pharisäer, die haben es, wie gesagt, ganz anders gemacht. Da galt nur eines: Wie steht der Mensch zu Gott? Wie weit erfüllt er seine religiösen Pflichten? Wie weit ist er bereit, dem Gesetz Gottes zu gehorchen? Und wenn sie bei einem Menschen auf solche Fragen eine unbefriedigende Antwort bekamen, dann war es für sie klar und eindeutig: Von dem will ich nichts wissen. Mit dem habe ich nichts zu tun, im Guten nicht und nicht im Bösen. Der gilt für mich überhaupt nicht.

Ich sagte: Wahrscheinlich haben diese Gegner mit einem solchen Verhalten die Menschen, mit welchen sie zu tun hatten, ernster genommen, als wir das gemeinhin machen. Und ganz gewiss haben sie Gott ernster genommen, als wir das tun. Sie haben den Menschen ernster genommen, weil sie nicht nur etwas an ihm geschätzt oder abgelehnt haben. Weil er ihnen nicht bloß als ein angenehmer Unterhalter, oder ein guter Kamerad, oder ein gefälliger Nachbar von Interesse gewesen ist – sondern, weil sie ihn ganz ernst zu nehmen suchten.

So ihn zu nehmen suchten, wie ihn Gott ihrer Meinung nach, und zwar ihrer gewiss nicht unbegründeten Meinung nach, als ganzen Menschen nahm. Denn sie wussten wohl: Gott, der fragt nicht danach, ob einer eine Gesellschaft zu unterhalten vermag. Gott fragt auch nicht danach, ob einer eben ein hilfsbereiter Nachbar ist, auf den man rechnen kann. Oder ein guter Kamerad, auf den man sich verlässt. Gott fragt vielmehr nach dem Menschen, ganz und gar fragt er nach ihm. Fragt danach, ob dieser Mensch Gottes Willen tue. Fragt danach, ob dieser Mensch sein Wort gehört habe, und es kenne, und mit diesem Wort umgehe – Seht: Weil sie das wussten, worauf es Gott ankommt bei einem Menschen – weil sie dies Urteil und diesen Willen Gottes ernst nahmen – darum nahmen sie auch die Menschen, mit welchen sie umgingen, ernster, als wir das gemeinhin zu tun pflegen.

Denn sie fragten bei einem Menschen eben danach: Wie steht er zu Gott? Wie steht er zu Gottes Wort? Wie steht er zu Gottes Willen? Und wenn einer sich darum nicht kümmerte, dann meinten sie: Das ist kein Umgang für einen Menschen, der Gott gehören will. Das ist keine Gesellschaft für einen Menschen, welcher Gottes Reich erwartet. Lasst den laufen, zeigt ihm, dass er mit Gott nichts zu tun hat – vielleicht, dass er dann noch merkt, wie ernst es Gott mit ihm meint, wie bitter ernst er selbst dran ist. Vielleicht, dass er das noch merkt und dadurch auf den rechten Weg findet.

Seht: So wichtig haben sie es genommen, wie ein Mensch sich zu Gott stellte, so wichtig, dass das der erste und der entscheidende Maßstab für sie gewesen ist, wenn sie einen Menschen zu beurteilen hatten. Ob wir das nachfühlen können? Ob wir uns das deutlich genug vorstellen können? Wir, die wir uns angewöhnt haben den Glauben, welchen einer hat, als gar nicht so sehr wichtig anzusehen. Die wir es uns angewöhnt haben, diesen Glauben als etwas anzusehen, das niemand etwas angeht als uns persönlich und unseren Herrgott.

Die wir so denken für uns selber und uns scheuen, unseren Glauben offen auszusprechen, und die wir so denken anderen gegenüber, dass wir der Meinung sind, jeder sei für seinen Glauben selber zuständig und wie es mit diesem Glauben stehe, das gehe nur ihn ganz allein an. So sind wir es gewöhnt. Darum meine ich, sind wir kaum in der Lage, das Gleichnis Jesu und das, was er damit sagen wollten, recht zu verstehen und haben es nötig, zunächst einmal bei den Gegnern Jesu und die Schule zu gehen, und es zu lernen, Gott und die Menschen wirklich ernst zu nehmen. Dann erst begreifen wir es, was Jesus meinte mit den beiden Gleichnissen vom verlorenen Schaf und vom verlorenen Groschen. Wir, wir religiösen Einzelgänger, die wir aus dem Glauben eine verborgene Herzenssache gemacht haben – wir merken es nicht, und können es gar nicht bemerken, und wollen es gar nicht bemerken, wenn eines von uns in die Irre geht – wenn eines von uns verloren ist! Wenn die Schafe allesamt auseinandergelaufen sind, wenn die Groschen allesamt in alle Winkel und Ecken des Hauses verstreut sind, dann freilich, dann hat es nicht viel Sinn, von Verlieren und Finden und gar von der Freude über das Wiedergefundene zu reden, auf die es Jesus mit seinen Gleichnissen angekommen ist! Und so ist es doch bei uns, bei uns Leuten, die jeder seinen Privatglauben haben und jeder seinen Extraherrgott, auch wenn wir des Sonntags noch miteinander auf einer Kirchenbank sitzen und aus dem gleichen Gesangbuch dieselben Lieder singen, und dasselbe Gotteswort hören. Merken wir es denn, wenn sich einer verläuft, vom Glauben wegkommt? Und merken wir es, wenn er zurückfindet? Und freuen wir uns, so wie Jesus sich freute, als er merkte: Die Verlorenen, die Gottlosen – Zöllner, und Sünder: Auf mein Wort hören sie!

Zu mir kommen sie! Von mir lassen sie sich ins Reich Gottes rufen. Jesus hat sich darüber gefreut – das müssen wir seinen Gleichnissen doch anmerken. Und hat die Anderen, die Pharisäer, die Frommen seines Volkes einladen wollen, dass sie sich mitfreuten! Sich mitfreuten darüber, dass Verlorene von Gott gefunden wurden durch Jesus, dass sie alle, alle miteinander an der herrlichen Zukunft des Gottesreichen Anteil nehmen sollten. Alle, alle miteinander, die, die von Anfang bei der Herde Gottes geblieben waren, und die anderen, die verlorenen Schafe, die nun durch Jesus wiedergefunden waren.

Die Gerechten genauso wie die Sünder: Alle, alle miteinander sollten sich nun freuen, dass ihnen durch Jesu Wort und Wirken das Gottesreich nahegebracht wurde. Miteinander sollten sie sich freuen: Jesus, der das Verlorene wiederfand, und die Verlorenen, die gefunden waren, die Zöllner und Sünder, alle, die ihn hörten, und die Frommen, die zunächst noch kritisch und misstrauisch beiseite standen!

Freilich: Wir – merken wir das? Kümmern wir uns überhaupt darum? Erkennen wir irgendetwas von dem Ruf unseres Heilandes – aneinander! So, dass wir merken, seine Herde wächst. So, dass wir merken, er suche auch heute, was verloren ist. So, dass wir, die wir von ihm gefunden sind, zusammenrücken, beieinanderstehen. Ich sage: Weil wir einander nicht ernst genug nehmen, und weil wir den lebendigen Gott nicht ernst genug nehmen, darum begreifen wir so wenig von der Tiefe der Worte Jesu und von der Gewalt seiner Taten, wie sie uns das Evangelium vor Augen malt. Wir – die wir bloß stückweise Menschen sind. Wir, die wir uns selber und die, mit denen wir zusammen sind, immer nur in einer bestimmten Weise sehen können. Wir, die wir beispielsweise den Grundstücksnachbarn sehen, gegen welchen wir unser gutes Recht zu behaupten haben – und vergessen dann gar zu leicht, dass er doch mit uns zusammen gehört, zu der einen Herde! Und dass wir nur ganz mit dabei sein können, nicht so ein bisschen, nicht einfach so am Sonntag, und sonst nicht. Wir, die wir meinen, wir könnten unsern Glauben für sich haben und könnten unser Leben für sich haben. Die wir meinen, das ginge ganz gut und ganz reibungslos, dass wir zur Herde Jesu Christi gehören, und im Übrigen für uns, und womöglich noch gegeneinander, unser Leben führen.

Seht, liebe Freunde! Wir sollten das begreifen, und darum meinte ich, es sei notwendig, das wir zunächst einmal bei den Gegnern Jesu in die Schule gehen, - dass wir ganz zusammengehören in unserem Glauben, oder dass wir gar nicht dazugehören.

Ganz – und sollten dann auch daran denken, mit wem wir es zu tun haben. Sollten daran denken, mit wem wir zusammenleben, zusammenkommen, zusammenarbeiten, zusammenhandeln. Sollten uns freuen, miteinander, dass wir zusammen gerufen sind, alle, alle miteinander.

Amen