12. nach Trinitatis, 5. Sept. 1954 Münsingen /Trailfingen


237,1-4 Dir, dir Jehowa 23,1-4

188,1.2 Nun lass mein Seel 21, 1.2

528, 5-7 wie gut ists, von der Sünde frei 436,5-7

188,4 Nun lob mein Seel 21,4


Joh 8, 31-36 KBI,1 (159)

Röm 7, 18-8.4 KB1, 9 (198)


Liebe Gemeinde!


Gott sei Dank! Wie oft sprechen wir diese Worte aus, wie leicht führen wir sie immer wieder im Munde! Und wie wenig denken wir uns oft dabei. Gott sei Dank, dass ich den Weg nun doch nicht machen muss, zu dem ich gar keine Lust hatte. Gott sei Dank, das es noch einmal geklappt hat, was durch mein Nachlässigkeit beinahe schiefgegangen wäre. Gott sei Dank, das niemand gemerkt hat, was nicht so ganz einwandfrei war an dem, was ich getan habe. Wir kennen alle dieses leichtfertig und gedankenlose Gott sei Dank, wir gebrauchen es immer wieder. Ob das so ganz in Ordnung ist, das wollen wir heute nicht untersuchen.


Vielmehr geht es darum, das wir das gewiss nicht gedankenlose und leichtfertige, Gott sei Dank! des Apostels Paulus verstehen und nachsprechen lernen, dieses gewichtige und inhaltschwere Gott sei Dank, das gleichsam als eine feste Klammer die beiden Hälften unseres Textabschnittes miteinander verbindet. „Ich danke Gott durch Jesum Christum unseren Herrn.“

Warum dankt Paulus? Warum dankt Paulus?

Wir wollen versuchen, auf diese Frage eine Antwort zu finden, damit auch wir uns dieses Danken wirklich zu Eigen machen können. Denn nicht allein Paulus hat diesen Grund zum Danken gehabt – sondern wir alle stehen genau wie der Apostel da als Menschen, denen Gott unermesslich Großes gibt, als Menschen, die darum Gott zu tiefem Dank verpflichtet sind.


1)


Gott gibt den rechten Lebensraum: Das ist der erste Grund unseres Dankens. Lasst uns darum jetzt betrachten, wo dieser Lebensraum ist, den uns der Apostel zeigt. Freilich ist es dazu nötig, dass wir ganz klar unterscheiden zwischen dem irdischen Bereich, in dem wir zu denken und zu rechnen gewohnt sind und dem geistlichen Bereich, den uns das Evangelium aufschließt. Ist nicht der Kampf um den Lebensraum ein ehernes Gesetz dieser Welt, dem wir alle miteinander unterworfen sind? Schau doch nur einmal hinein in das Leben der Natur, so wirst du diesen Kampf leicht feststellen können. Eine Pflanze macht der anderen den Lebensraum streitig, die Distel will den Weizen verdrängen, will ihm Licht und Sonne und Platz wegnehmen, dass er verkümmern und eingehen muss, wo unsere Hände nicht helfend eingreifen.

Ein Tier verjagt das andere, der Stärkere frisst den Schwächeren auf, jedes hat mit List und Gewalt um sein Leben zu kämpfen. Und wir Menschen? Sind wir nicht genauso hineingeworfen in diesen Existenzkampf, in diesen Kampf um den Lebensraum? Wir kämpfen um eine Wohnung, kämpfen um einen Arbeitsplatz, kämpfen um besseren Verdienst und größeres Einkommen, kämpfen, um nicht zurückzubleiben in der technischen Entwicklung, um nicht unter die Räder zu kommen, um unseren Lebensstandard zu halten und möglichst zu verbessern. Ob der Apostel zu diesem Lebenskampf wirklich etwas zu sagen hat? Ob wir nicht in diesem Kampf wirklich ganz auf uns selber gestellt sind, ganz und gar auf unsere eigene Kraft angewiesen sind? Wir wollen leben! Das sagt uns unsere Natur. Und Leben – das ist doch solcher Kampf: Oder stimmt das etwas nicht? Seht, liebe Freunde! Gott gibt den rechten Lebensraum. Das sagt uns der Apostel. Aber er zeigt uns mehr: Er warnt uns davor, dass wir diesen Platz fleischlich, irdisch missverstehen. Gott gibt uns den rechten Lebensraum – das heißt nicht: Gott garantiert uns eine Dreizimmerwohnung, einen gutbezahlten Arbeitsplatz, Freiheit von listiger Konkurrenz, einen angenehmeren Lebensstandart. Nein! Das bedeutet etwas ganz anderes: Gott schließt uns einen neuen Raum auf, in dem wir das Leben

finden können, das uns aller Kampf um den irdischen Lebensraum nicht geben kann. Wo ist dieser neue Raum zu finden? Die Antwort ist uns in zwei Worten gegeben: In Christus! Doch wie sollen wir verstehen, was dieses in Christus denn bedeutet? In Christus: Das heißt in der von Gott gestifteten Gemeinschaft derer, die ihm angehören, die durch seinen Sohn Jesus Christus zu seiner Gemeinde, zu seiner Kirche versammelt sind. In diesem Lebensraum ist das Gesetz des Kampfes grundsätzlich und unwiderruflich außer Kraft gesetzt. Da gilt nicht Kraft. Da wird nicht nach Leistung gerechnet, da gibt nicht der Stärkere den Ton an. Seht auf unseren Herrn Jesus Christus, seht auf ihn, der uns diesen Lebensraum aufgeschlossen hat. Ja – seht auf ihn, liebe Freunde, wie er am Kreuze hängt. Könnt ihr euch etwas Schwächeres, Hilfloseres, Todesverfalleneres vorstellen, als diesen Menschen, der Gottessohn, der in der Gestalt unseres sündlichen Fleisches am Kreuz hängt?

Und doch gilt es von ihm, so gut dies Eine gilt, dass ihm die Welt den Lebensraum verweigerte, dass sie ihn ausgestoßen hat, dass er die größte Schwachheit, den bittersten Tod zu kosten hatte, - gilt von ihm auch dies Andere: Er lebt! Er ist auferstanden! Er ist bei Gott! Er kostet das göttliche Leben in seiner ganzen Fülle und Herrlichkeit. Liebe Freunde! In Christus sein – das heißt hinein genommen sein in diese Schicksal unseres Heilandes. Wir sind getauft. Was aber ist die Taufe anderes als ein sichtbares Zeichen dieses Christusweges, der unser aller Weg sein soll, der Weg in den göttlichen Lebensraum, der Weg zum ewigen Leben. Hinab und wieder herauf – hinab tauchen in die dunklen Fluten der Todes, herauf steigen in Licht und Fülle des göttlichen Lebens. Das können wir nicht machen – keiner vermag sich selber zu taufen – Gott allein ist es, der uns diesen neuen Lebensraum aufschließt. „In Christus“ haben wir den rechten Lebensraum: Das ist der erste Grund, Gott zu danken.


2)


Doch Paulus zeigt uns mehr Grund zum Danken. Gott gibt das rechte Lebensziel! Das ist das zweite, was wir uns merken wollen. Wie heißt dieses Ziel? Paulus drückt es aus in dem einen Wort Gerechtigkeit. Ist das eigentlich etwas so Besonderes? Haben wir nicht alle das Ziel, es in unserm Leben recht zu machen? So recht zu machen, dass wir unser Tun nicht zu verstecken brauchen? Dass wir den vielerlei Anforderungen gerecht werden, die das Leben an uns stellt. Dass wir etwas leisten in unserem Beruf, in unserem Hauswesen. Dass wir unsere Familie versorgen, wie es recht ist. Dass wir den Forderungen nachkommen, die Gemeinde und Staat an uns stellen, ob das nun finanzielle Verpflichtungen sind, oder unsere tätige Mitarbeit an dem Platz, wo wir etwas leisten können. Gerechtigkeit – ist das nicht das Ziel, nach dem wir unser Leben auszurichten bemühen, damit uns ja niemand etwas Unrechtes nachsagen kann? Doch, liebe Gemeinde, die Gerechtigkeit, von der der Apostel Paulus redet, sieht anders aus. Es ist nicht die Gerechtigkeit, die unter uns Menschen gilt, die unsere Beziehungen untereinander regelt; nein, die Gerechtigkeit, von der der Apostel redet, ist die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Wie sieht aber die Gerechtigkeit aus? Wieder steht uns als das Urbild, als das Vorbild dieser Gerechtigkeit Jesus Christus, der Gekreuzigte, vor Augen. Steht uns vor Augen als der, der nicht der Verführung erlegen ist, sich selber behaupten zu wollen. Seht, er hat nicht die Machtmittel, die ihm zur Verfügung standen eingesetzt, um sich zum Führer seines Volkes aufzuwerfen: Die Gewalt seiner Rede, seine geheimnisvolle Wunderkraft. Ja, nicht einmal, als es ihn ans Leben ging, als sie ihn gefangen nahmen, um ihn vor den Richterstuhl zu schleppen, wo ihn das sichere Todesurteil erwartet, nicht einmal da duldete er es, dass sein Jünger das Schwert zu seiner Verteidigung zog. Jesus Christus, unser Meister, der am Kreuze hing – er ist nicht der Versuchung erlegen, sich selbst zu behaupten, er hat sich nicht unter das Gesetz des Lebenskampfes zwingen lassen, indem der Stärkere den Schwächeren niedertritt, oder ihn höchstens ganz am Rande ein Schattendasein führen lässt. Er vertraute Gott ganz und gar, erwartete gar nichts von sich und seiner Lebenskunst und Lebenskraft, erwartet alles von Gott. Und Gott der Herr hat ihn nicht enttäuscht. Er hat ihn auferweckt und in das ewige, himmlische Leben eingesetzt. Das ist unser Lebensziel, liebe Freunde, diese Gerechtigkeit, die sich nicht selbst behauptet, die sich nicht an die eigenen Machtmittel klammert, die nicht auf die eigene Kraft und Kunst vertraut, sondern ohne sich ganz und gar Gott überlässt. Diese Gerechtigkeit ist unser Lebensziel, das wir erlangen können, durch seine Gnade. „Denn was dem Gesetz unmöglich war (sintemal es durch das Fleisch geschwächt ward), das tat Gott und sandte seinen Sohn in der Gestalt des sündlichen Fleisches und der Sünde halben und verdammte die Sünde im Fleisch, auf dass die Gerechtigkeit, vom Gesetz gefordert, in uns erfüllt würde, die wir nun nicht nach dem Fleische wandeln, sondern nach dem Geist.“ Gott sei Dank für diese Gerechtigkeit.


3)


Doch noch ein Drittes zeigt uns der Apostel, wofür wir Gott zu danken haben: Indem er uns den echten Lebensraum gegeben hat, indem er uns das rechte Lebensziel gezeigt hat, hat er uns befreit von der tiefsten Lebensnot. Von der Lebensnot, die sich entlädt in dem Schrei: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes.“ Wir sind befreit von einer Gefangenschaft, deren Gefahr und tödlichen Ausgang freilich nur der erkennen kann, der aus dieser Gefangenschaft befreit ist. Paulus nennt diese Gefangenschaft, die Gefangenschaft „unter der Sünde Gesetz, welches ist in meinen Gliedern.“ Wir haben schon von diesem Gesetz geredet: Es ist das Gesetz der Selbstbehauptung, das Gesetz des Lebenskampfes, das Gesetz der eigenen Gerechtigkeit. Wir waren unter diesem Gesetz gefangen, und sind immer neu in Gefahr, unter die Herrschaft dieses Gesetzes zu geraten. So ruft dieses Gesetz uns zu, das in uns selber wohnt, das sich immer neu seine Geltung verschaffen möchte: Du willst leben? Gut, so setz' dich durch. Kämpf' um deinen Platz an der Sonne. Verschaff dir ein gutes Einkommen, dann kannst du dir’s schön machen. Sichere dich gegen alles was dir vielleicht zustoßen kann. Sie zu, dass du es ja mit niemand verdirbst, der dir vielleicht noch einmal nützen kann. Sieh darum auch zu, dass du es dir ja nicht mit Gott verdirbst. Zahl deine Kirchensteuer, geh hin und wieder zur Kirche, tu deine Christenpflicht – dann kann dir nichts passieren, dann hast du dein Leben gesichert. Liebe Freunde!

Diese Einflüsterungen sind Lüge, mit der das Sündengesetz uns immer wieder unter seine Herrschaft zwingen will. Unter seine Herrschaft, die uns garantiert in den Tod führt. Denn was uns dies Gesetz erlangen heißt, ist vergänglich, Geld und Besitz und Genuss und Ansehen. Wir sind frei von diesem Gesetz; frei von dieser tiefsten Lebensnot, von dem Betrug der Sünde. Schau auf Christus! In ihm hast du den echten Lebensraum, seine Gerechtigkeit ist das rechte Lebensziel! Ja, er ist unser Leben. Darum sei Gott Dank durch Jesum Christum unseren Herren. (Amen)

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