14. n. Trinitatis 15. September 1963  Wolfenhausen / Nellingsheim

196,1-3 Lobt Gott den Herrn (99)

283,1-5 Von Gott will ich nicht (237)

254,3.5 Ich will dich lieben (124)

283,9 Von Gott will ich nicht (237)

 

Jes 42,1-8

Joh 9,39-41

 

Liebe Gemeinde!

Die Juden sind unser Unglück – so hat es einmal geheißen. Das war bequem. Da hatte man einen, der an allem Schuld war, was nicht so lief, wie es sollte. Heute sagt man nicht mehr: Die Juden – schon deshalb nicht, weil man dafür bestraft werden kann. Aber derart zu urteilen, das hat damit ja keineswegs aufgehört! Da sind beispielsweise die Kommunisten, die uns am Glück hindern – das stimmt doch? Da sind diese Neger in den Entwicklungsländern, denen wir unser gutes Geld hinschmeißen, damit sie groß werden und uns einmal den Hals abschneiden! Oder nicht? Da sind die Bauern, die der Zeit nachtrauern, wo sie von überall her umworben waren – und wollen sich nicht in die neue Zeit schicken, in der nun einmal ein anderer Wind weht, sondern bringen mit ihren unverschämten Forderungen die ganze Wirtschaft durcheinander. Ist nicht etwas dran? Da sind die Arbeiter mit ihren Gewerkschaften, die nicht genug bekommen können, sondern immer weniger arbeiten und immer mehr verdienen wollen, und derweilen gehen die Preise immer höher! Das kann ja jeder sehen. Da sind die Kapitalisten, die Reichen, die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld, die sich ihre Marmorvillen bauen und ein Luderleben führen – auf unsere Kosten. Da sind die Schwarzen mit ihrer finsteren Politik – oder die Roten, je nachdem in welches Lager wir gehören! Da sind die Nellingsheimer – oder die Wolfenhauser – je nachdem: Man ist gegeneinander, warum? Es ist was dran – überall. Wir haben Gründe für unsere Urteile, jawohl! So ist es.

„Wäret ihr blind, so hättet ihr keine Sünde! Nun ihr aber sprecht: ‚Wir sind sehend‘, so bleibt eure Sünde.“ Das meint Jesus – dieses: So ist es – die Juden, Neger, Bauern, Arbeiter, Gewerkschaften, Kapitalisten, Kommunisten, Nellingsheimer sind’s! Dass wir meinen, so könnten wir sehen! Menschen sehen, unsere Welt sehen!

Mit dem – oder denen weiß ich, wie ich dran bin. Ich hab’s ja schließlich erlebt – dieses und jenes erlebt, sehr genau! Wie haben mich die Russen, oder Engländer oder Franzosen in der Gefangenschaft behandelt! Der hat mich einmal angelogen – jener hat mich einmal übel herein gelegt. Als ich so übel dran war, hat mir keiner geholfen – und die Frommen erst recht nicht: Ich weiß, wie ich mit den Menschen dran bin. Der hat mich ausgestochen bei der Wahl – dabei hätte ich’s viel eher verdient, zu diesem Amt zu kommen, oder dies dumme Mädchen hat den anderen genommen, trotzdem ich mich um sie bemüht habe – ich weiß Bescheid. Wäret ihr blind, so hättet ihr keine Sünde; nun ihr aber sprecht: „Wir sehen“, bleibt eure Sünde!

Ja – aber sollen denn unsere Schlüsse, die wir aus unserer Erfahrung ziehen, nichts gelten? Ich hab’s doch erlebt – ich weiß doch Bescheid, mit diesem oder jenen, mit vielen!

Ich weiß, was Recht ist: und wenn der Himmel einstürzt – am Sonntag wird keine Arbeit angerührt – und die sich daran nicht halten, die werden schon einmal noch zu büßen haben. So die einen. Was für Heuchler. Jawohl, sonntags in die Kirche, und nachmittags womöglich noch in die Stunde – aber ich weiß, was das in Wirklichkeit für Leute sind! Der heißt den faul, und der heißt jenen verrückt, weil er nichts anderes kennt als seine Arbeit – die sind geizig, und die leben über ihre Verhältnisse: Wir wissen wohl zu urteilen über dies oder jenes Verhalten der Anderen. Wir haben unsere Maßstäbe, wir haben unsere Grundsätze, uns macht niemand etwas vor – wir wissen Bescheid!

Wäret ihr blind, so hättet ihr keine Sünde. Nun ihr aber sprecht: „Wir sind sehend“, bleibt eure Sünde.

Wir können natürlich aufbegehren gegen dieses Urteil Jesu – können unsere Gründe vorlegen, wohl, nicht bloß falsche Vorurteile, sondern gewichtige Gründe, Überzeugungen, Erfahrungen, nach denen wir uns richten! Wir können genau darlegen, warum wir den Kommunismus für eine große Gefahr halten, der man mit allen Mitteln und um jeden Preis entgegen treten muss, oder warum die falsch und jene geizig und diese faul sind – warum es richtig ist, am Sonntag grundsätzlich nicht zu arbeiten oder warum wir uns nur selten in der Kirche sehen lassen! Es hat jeder seine Gründe und Erfahrungen. Aber seht: Jesus, der diskutiert nicht mit diesen Gründen und Erfahrungen – sondern stellt sich selbst dagegen und sagt: Ich bin der Grund, die Erfahrung, die gilt – das Licht, in dem allein man sieht. „Ich bin zum Gericht auf diese Welt gekommen, auf dass die da nicht sehen, sehend werden, und die da sehen, blind werden“.

Ich – das ist Jesu Anspruch, daran haben sie sich gestoßen, die ihn fragten: Sind wir denn blind – und Jesus hat ihnen entgegnet: Schlimmer noch: Ihr meint, ihr würdet sehen, und darum bleibt ihr blind!

Was das ist – Sehen und Blindsein – das hatte Jesus gerade auf seine Weise gezeigt. Da war einer gewesen, blind von Geburt an. „Die Blinden sind Sünder – denn Gott hat sie gestraft“ – so hat man damals geurteilt. Und es war für Jesu Jünger nur die einer Frage: Hat der gesündigt oder seine Eltern! Falsch – sagt Jesus, indem er sich dieses Menschen annimmt und ihn heilt. Darum war er blind, dass er nun als Sehender ein Zeuge der Herrlichkeit Gottes werden kann. Jeder ist ein Mensch für sich – etwas Besonderes, und Blindheit wäre es, ihn nur nach den allgemeinen Grundsätzen, die wir alle so reichlich bereit haben, zu beurteilen. Die Blinden sind Sünder…. Soweit schön und gut – und man hätte sich das schon gefallen lassen! Aber es war Feiertag, Sabbat, als Jesus diesen Menschen heilte. Eine Arbeit ist das, die nicht getan werden darf! Von Geburt an war der blind, er hätte schon noch einen Tag warten können. Was brauchte Jesus dagegen zu verstoßen, und am Feiertag Arbeit zu tun! Ich weiß, was Recht ist! Sechs Tage sollst du arbeiten, und am siebten sollst du ruhen. Das haben sie ihm vorgehalten – sie hatten ja ihre Gründe, den gewichtigsten Grund, den es überhaupt gibt: Gott hat das geboten – darum ist es richtig. Und darum kann Jesu Tun nicht richtig gewesen sein – und den Blinden, der diesen Jesus gelten ließ und anerkannte, der ihn geheilt habe, müsse vom Himmel gekommen sein – den haben sie aus ihrer Kirche ausgeschlossen. Denn Recht muss Recht bleiben, und Gottes Gebot muss Gottes Gebot bleiben.

Jesus schiebt das alles beiseite: Ich, ich, ich bin zum Gericht auf diese Welt gekommen, auf dass die da nicht sehen sehend werden, und die da sehen – oder vielmehr zu sehen meinen blind werden. Was heißt das? Was meint Jesus mit solchem Sehen? Nichts anderes doch wohl, als dass wir die Wirklichkeit sehen lernen – diesen Menschen, den Menschen Gottes, der dies braucht. Es ist schwer zu lernen – es ist viel leichter, einen in eine Schublade einzusortieren, leichter, ihn nach dem, was einmal gewesen ist, einzuordnen, statt auf eine neue Begegnung zu warten. Es ist viel leichter, bei einem festgelegten Richtig oder Falsch zu bleiben – statt zu merken, dass Richtig auch einmal Falsch sein kann. Aber so ist’s wirklich, wie Gott ein lebendiger Gott ist! Amen.