Estomihi 12. Februar 1961 Wolfenhausen / Nellingsheim


381,1-5 Das äuß're Sonnenlicht (181)

252,1-4 Lasset uns mit Jesu (225)

55,1-3 O Lamm Gottes, unschuldig (209)

496,8 Der Herr ist gut! (39)


Gal 2,15-21

Lk 18,31-34


Liebe Gemeinde!

Das, was Jesus hier sagt, ist uns aus der Darstellung der Leidensgeschichte wohl vertraut: Dass Jesus überantwortet wird - dass man ihn in die Hände der Heiden übergibt, dass er von denen verhöhnt wird, geschlagen und getötet. Das Geschehen, von ihm hier die Rede ist, das verstehen wir wohl. Aber wir werden nun sagen müssen, dass ist hier nicht um das nackte, bloße Geschehen geht, welches für uns ja schon lange Vergangenheit geworden ist, obwohl es hier im Munde Jesu als Zukunft ausgesprochen wird. Vielmehr geht es um den Sinn, um die Bedeutung dieses Geschehens und hier werden wir zunächst einmal beachten müssen, warum uns die Evangelien Leidensweissagungen Jesu berichten, erzählen, dass er dreimal seinen Jüngern voraus gesagt habe, was mit ihm geschehen werde: Darum ist das berichtet, damit wir sehen: Er ist nicht Opfer eines unglücklichen Zufalles oder eines blinden Schicksals geworden. - So könnte man ja auch herum spekulieren: Warum musste sich unter den Jüngern gerade auch der Verräter Judas Ischariot finden? Oder: Warum musste das Volk gerade die Freigabe des Mörders Barrabas verlangen, statt sich für Jesus zu entscheiden? Ich sage: So könnte man herum denken und herum spekulieren, womöglich in der besten Absicht, und bewegt von den reinsten Gefühlen des Mitleides mit Jesus. Aber das will uns die Schrift verbieten, indem sie uns die Leidensweissagungen überliefert. Das sollen wir merken: Jenes Geschehen des Leidens Jesu war nicht eine mehr oder weniger zufällige Sache. Vielmehr: Es war notwendig. Jesus hat klar voraus gesehen, was kommen musste, und ist doch unbeirrt seinen Weg gegangen, hat sich dem gestellt, was ihn erwartete, weil er genau wusste, dass er nur so das Werk seiner Liebe zum guten Ende bringen konnte. Und nicht nur ist dieser Weg, „hinauf nach Jerusalem“, hinauf zum Kreuz, der Weg Jesu gewesen, den er wissend und willentlich ging, es war auch der Weg Gottes; der Weg, voraus gesagt durch die Propheten, und damit von vorne herein aus dem Dunkel und Zwielicht menschlichen Schicksals heraus genommen und in das klare, helle Licht des Gotteswortes gestellt, als der Weg nach Gottes Willen. Seht – das will uns das Evangelium lehren, dass wir es begreifen: Dieser Weg Jesu nach Jerusalem hinauf war ein göttlicher Weg, war notwendig in einem ganz besonderen Sinne, konnte gar nicht anders als eben so laufen. „Sehet, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von des Menschen Sohn.“

Freilich – obwohl Jesus es klar und deutlich aussprach, obwohl er auf das Gotteswort der Propheten verwies, so dass doch kaum ein Zweifel hätte aufkommen können, heißt es von den Jüngern: „Sie aber verstanden der Worte keines, und die Rede war ihnen verborgen, und wussten nicht, was das Gesagte war.“ Sie, die Jünger sahen nicht ein, dass das kommen müsse, was ihnen Jesus da sagte, sahen nicht ein, dass er wirklich so notwendig seinen Leidensweg gehen musste. Warum das? Sie waren doch gewiss fromme Menschen. Sie hatten sich doch ganz klar für Jesus entschieden. Sie hatten alles verlassen und waren ihm nach gefolgt. Sie hörten Tag für Tag sein Wort, sie konnten ihm alle ihre Fragen und Sorgen vorlegen – und trotzdem heißt es von ihnen: „Sie aber verstanden der Worte keines, und die Rede war ihnen verborgen, und wussten nicht, was das Gesagte war.“ Warum das – so frage ich noch einmal. Nur so wird die Antwort lauten können: Daran lag es, dass sie sich selber noch zu viel zutrauten – sie, die Frommen und entschiedenen Jesusjünger. Weil sie meinten: Mit Jesu Beistand könne es ihnen wohl gelingen, ein gutes, frommes Leben, ein Leben des Gehorsams und der Nachfolge zu führen. Und darum sahen sie es nicht ein, dass er sterben müsse. Darum wollten sie das nicht begreifen, dass sein Tod der einzige Weg zum Heil sei!

Sehet, liebe Freunde: Es ist diesen Jüngern gegangen, wie es uns allen gemeinhin zu gehen pflegt: Wir schätzen uns zu hoch ein. Es fehlt uns die rechte Selbsterkenntnis. Gewiss, wir geben es zu, dass wir Sünder sind, dass wir vieles falsch gemacht haben. Wir sehen ein, dass dies oder jenes anders werden muss in unserem Leben. Wir sind dankbar, dass Gott nachsichtig ist, dass er der Jugendsünden nicht gedenkt; und meinen, wenn wir nur einmal einen festen Entschluss fassen würden, und uns des Beistandes Jesu versicherten, dann müssten wir doch wirklich den Weg zum Heil finden können. Ich sage: Wir schätzen uns zu hoch ein! Wir denken zu gut von uns selber, wenn wir so denken. Ja – wir merken das oft gar nicht einmal, wie wir uns selber gefallen – auch dann uns gefallen, wenn wir uns selber kritisieren. Auch dann uns gefallen, wenn wir uns im Spiegel unseres Gewissens betrachten, wenn wir uns auch die trüben und schmutzigen Stellen nicht verschweigen, sondern sie klar sehen und den festen Entschluss fassen, dass es anders werden müsse! Nein, liebe Freunde! So erden wir mit unserem Hochmut, mit unserer Selbstgerechtigkeit nicht fertig. So einfach geht es nicht! Seht – auch das wäre noch zu einfach, wenn wir es uns selber recht hart und schwer machen würden, wenn wir mit uns in ein strenges Gericht gehen würden. Ich richte auch nicht selbst – sagt der Apostel Paulus. Ich bin mir zwar nichts bewusst – aber darin bin ich noch nicht gerechtfertigt! Seht – wir denken zu hoch von uns, wenn wir meinen, wir könnten den Weg des Heiles gehen. Keiner kann das – auch Petrus und Jakobus und Johannes und wie sie alle heißen, sie konnten das nicht. Freilich, sie gingen mit Jesus – hinauf nach Jerusalem, gingen in seinem Geleit, gingen unter seinem Wort. Aber als es dann zum Treffen kam, als Jesus dort im Garten Gethsemane mit Gott rang im Gebete – da schliefen sie. Und als die Häscher erschienen, da liefen sie davon. Keiner hat durchgehalten – kein einziger. Seht – darum haben sie nicht verstanden, was Jesus sagte, weil sie sich zu hoch einschätzten. Weil sie meinten – dies wäre denn doch nicht nötig, dass Jesus sterben müsse. Weil sie meinten, mit seiner Hilfe müsse es ihnen doch gelingen, den Weg des Heiles zu gehen. Und darum, liebe Freunde, darum haben sie Jesu Worte, haben sie seine Leidensweissagung nicht verstanden, weil sie das nicht begriffen: Dass es nur diesen einen, diesen einzigen Weg des Heiles geben konnte, den Weg hinauf nach Jerusalem, den Weg an das Kreuz von Golgatha, dass es nur diesen einen, einzigen Weg des Heiles geben konnte, und dass nicht sie es waren, die diesen Weg gehen konnten, sondern der Eine, der Einzige: Jesus allein!

Seht, liebe Freunde: Es hat schon seinen guten Sinn, wenn wir fragen, warum denn dieser Weg Jesu ans Kreuz ein notwendiger Weg gewesen ist – ein Weg jenseits von Willkür menschlicher Entscheidung, ein Weg jenseits aller Zufälle, ein Weg auch jenseits der Tragik menschlicher Schicksale. Es hat seinen guten Sinn, sage ich, wenn wir uns von Jesu Leidensweissagung dazu anleiten lassen, nach der Notwendigkeit seines Weges zu fragen. Denn – wenn wir dieser Frage nicht ausweichen, dann lernen wir uns selber erst richtig kennen. Wenn wir danach fragen, warum er denn sterben musste, dann fällt diese Frage auf uns zurück: Du, du bist daran Schuld. Du, du bist es, der ihn dorthin gebracht hat! Du, du hast es soweit gebracht. Und wir werden dieser Frage nicht dadurch ausweichen können, dass wir sagen: Wenn ich damals gelebt hätte, ich hätte es anders gemacht. Wenn ich damals gelebt hätte, ich wäre mit ihm gegangen! Sind wir etwa frömmer als die Zwölf? Meinen wir im Ernst, wir brächten das fertig, woran jene kläglich scheiterten, die doch Jesus leiblich und real vor sich hatten. Seht – verstehen wirs, was Jesus hier sagt, da er von senem Leiden spricht, von der Notwendigkeit seines Leidens, nur dann verstehen wir es, wenn wir ganz und gar an uns selber verzweifelt sind, so wie die Jünger an sich selber erst verzweifeln mussten, ehe ihnen das Licht der Auferstehung Jesu ihre Nacht erleuchtete. Seht – nur dann verstehen wir es, was Jesus hier sagt, wenn wir ganz und gar das Vertrauen in uns selber veloren haben, wenn wir begreifen, dass das gilt, für uns gilt: Da ist keiner, der Gutes tue, kein Einziger – ich nicht, ihr nicht! Da ist keiner, der den Weg des Heiles gehen kann, kein Einziger! Die Zwölf, die mit Jesus unterwegs waren, die sein Wort hatten und seinen Beistand und die so fest auf sich vertrauten, die so sicher meinten, sie könnten den Weg des Heiles gehen – nicht allein, gewiss nicht, sondern sicherlich eben mit Jesus – sie haben es erst bitter begreifen müssen, warum sein Tod so notwendig war, sein bitteres Leiden: Weil Keiner von uns den Weg des Heiles zu gehen vermag, kein Einziger. Da sehen wirs, was wir für Menschen sind, da, an seinem Kreuze! Da muss er hängen – für uns, weil wir den Weg der Sünde gehen – alle. Seht – nicht uns dürfen wir anschauen, wenn wir wissen wollen, wo wir dran sind; Wir belügen uns doch selbst. Wir machen uns doch selber etwas vor – auch dann, wenn wir meinen, nun gingen wir doch recht erbarmungslos und unerbittlich mit uns ins Gericht. Nein! Dort sehen wir, wie groß die Sünde ist. So groß, dass er ans Kreuz gehen musste. So groß, dass er allein, ganz allein seinen Weg gehen musste, um für uns zu bezahlen. - Seht, fromm sind die Jünger Jesu gewiss gewesen und haben gewiss den festen Vorsatz und den besten Willen gehabt, ihm nachzufolgen – und er hat sie nicht von sich gestoßen. Und doch verstanden sie nichts von seinem Leidenswege, bis er selbst an Ostern ihnen die Augen öffnete, für sie selbst, für die Schrift, für seinen Weg. Seht – das wäre dann der Glaube, der rechte, wahre Glaube, der das gelten ließe: „Nicht mehr, denn: Lieber Herre mein, dein Tod wird mir das Leben sein; du hast für mich bezahlet.“ Das anzunehmen – geschenkt und umsonst, was wir nicht fertig bringen – das hieße Jesu Leiden recht verstehen. Lassen wir uns das sagen – dann sind wir selig. Amen.