Buß – und Bettag, 22.11.1967   Eberhardskirche, Tübingen

 

208,1-6      Ach bleib mit deiner Gnade

118,1-3      Aus tiefer Not lasst uns…

188,2.3      Nun lob mein Seel

188,4         Nun lob mein Seel

 

Lukas 13,1-9

 

Liebe Gemeinde!

 

Wir verstehen falsch, wenn wir diese Worte als einen dringlichen Appell verstehen: Auf jetzt! Seht zu, dass ihr andere Menschen werdet – sonst geht es euch ans Leben. Wenn ihr euch nicht bessert, werdet ihr alle auch so umkommen. Jetzt ist letzte Frist – ein Jahr noch ist dem Feigenbaum gegönnt; wenn ihr diese letzte Frist nicht nützt, dann ist es endgültig aus mit euch. Hörten wir so, dann wäre eben unsere Möglichkeit herausgefordert. Dies, dass wir uns besinnen – dass wir jeder für sich, die Reinheit und Lauterkeit seiner Gesinnung prüfe. Dass er mobilisiere, was an Kraft des guten Willens in ihm steckt: Das soll dann Buße sein!

Unsinn! Wir sind doch nicht hierhergekommen, um Illusionen zu pflegen. Illusionen über die Macht unseres guten Willens und die Lauterkeit der Gesinnung, die wir allenfalls aufbringen. Derartiges sollte uns jedenfalls dann längst vergangen sein, wenn wir einmal ernsthaft auf die großen Propheten Israels gehört haben: „Kann etwa ein Mohr seine Haut wechseln, oder ein Leopard seine Flecken ablegen? Wenn es einmal so weit kommt – dann könnt ihr das Gute tun, die ihr nur das Böse lernt!“ Warum? Sagen wir es mit dem Schlagwort: Es sind die Verhältnisse, die Gewohnheiten, die uns Gut und Böse verwechseln lassen. Wir wissen ja gar nicht, wie wir dran sind – kann da ein Appell an Selbsterkenntnis, Gesinnung und guten Willen helfen?

Keine Illusionen: Mit einem Gesinnungswandel, und mit der Frage nach dem Sinn meines Lebens, und mit der Suche nach einem Ewigkeitsbezug oder wie immer man sagen mag, ist gar nichts getan. Und wenn es zu dieser und jener Korrektur unserer privaten Lebenswandels kommt – so ist das zwar sicher nicht gering zu schätzen, und die Nächsten, Ehegatten, Kinder, Freunde werden‘s merken und uns danken! Aber damit sind wir ja noch lange nicht heraus aus jener Bedrohung, von der hier die Rede ist!

Mag sein, dass wir das gar nicht so einfach wahrnehmen. Hier tragen sie ja ihr Meinung an Jesus heran: Wer Unglück hat, der muss besonders schuldig sein – und erwarten von Jesus die Bestätigung. Der aber lässt hier keine Grenze gelten – zwischen denen, die es trifft, und den anderen, und keine mehr oder weniger; er verweist hinein in die Solidarität der Schuldigen. Nun, wir rechnen anders herum – sehen in solch plötzlichem, unerwartetem und unzeitigem Sterben eine nicht weiter zu hinterfragende blinde Zufälligkeit. Das meint ja wohl die Formel vom dem tragischen Unglücksfall, mit der die Opfer des Verkehrs angezeigt werden. Und wo es um den Tod von Menschen durch Menschen geht – da sind für uns gewiss nicht die Opfer die Schuldigen, sondern die Pilatusse und ihre Soldateska - die es ja bis heute gibt. Jene Galiläer sind ja bestimmt auch für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit umgebracht worden – deshalb, weil sie darunter anders verstanden als ihre Mörder. Die hatten die Macht – sonst wäre es wohl anders herum gegangen.

Statt von Gottes Gericht reden wir von tragischem Schicksal – und die Schuld suchen wir nicht bei den Opfern, sondern bei den Mördern.

Aber sind wir damit schon heraus aus jener Solidarität der Schuldigen, die Jesus mit seinem Bußruf anspricht? Sicher nicht. Es mag doch so sein, dass wir nur hier vorgewarnt sind, voreilig in eine private Buße und also in jene Selbstrechtfertigung auszubrechen, die sich gegen andere abgrenzt und meint, es könne sich einer schon aus dem Bösen heraushalten – Illusion ist das! Und eine Predigt am Bußtag soll ganz gewiss nicht Illusionen pflegen.

Was dann? Es ist hier doch von Besserung die Rede, und von der Frist, die noch gesetzt ist, damit einer Buße tun und Frucht bringen kann. Und nun soll das nicht möglich sein! Gewiss! Der Leopard wird seine Flecken nicht los, (und will das wohl auch nicht! Er könnte ja sonst mit einem harmlosen Schaf verwechselt werden -). Hier ist keine Möglichkeit. Und die Frage wäre höchstes: Wenn schon ein Gott da ist, der die Sünde hasst und die Gerechtigkeit will – warum dann noch diese Welt? Diese Welt – ich brauche jetzt nicht zu schildern – wir wissen dazu alle unser Teil beizutragen, und sollen uns das lieber sparen.

Nun – die Antwort Jesu ist nicht schwer zu finden: Er hat sich diese Welt ausgebeten, hat sich Zeit ausgebeten, an dieser Welt zu arbeiten: Lass ihn noch dies Jahr, bis dass ich um ihn grabe und dünge ihn – vielleicht bringt er dann doch Frucht – so sagt der Weingärtner im Gleichnis über den Feigenbaum. Also: Diese Zeit – das ist nicht die Zeit der Sünder, Galgenfrist, bis es nächstens zu Ende geht – im großen Atomknall für die meisten miteinander oder bei diesem und jenem Schlag eben für diesen und jenen. Diese Zeit ist nicht Galgenfrist, Jesu Zeit ist sie, Zeit seiner Herrschaft über die Welt, Zeit seiner Arbeit an der Welt.

Einwand: Du warnst eben noch vor Illusionen – nun bist du selbst in Illusionen hinein geraten. Imperativ, Befehl, Appell an den guten Willen und die Vernunft können doch noch etwas aus dieser Welt und den Menschen in ihr herausholen – aber das ist ja nun doch eine völlig illusionäre Behauptung: Gut! Ich akzeptiere den Einwand und sage so: Ich weiß, das ist keine Illusion. Hier steht‘s, und ich glaube dem was hier steht. Nicht mein Glaube soll sich durch meine Erfahrung bestimmen lassen – wie unbestimmt und vielfältig ist doch das, was wir Erfahrung nennen. Umgekehrt: Mein Glaube soll meine Erfahrung bestimmen.

Freilich – diese Zeit nun als Zeit Christi nicht nur zu glauben – sondern von diesem Glauben her dann auch zu erfahren und zu durchleben, das scheint ja eine Aufgabe zu sein, die falsch gestellt ist! Christus gehört die Seele und das Jenseits – und die Welt gehört der Gewalt, dem Geld, dem Trieb, dem Teufel. Darum soll sich der Christ – soweit das möglich ist - in einen stillen Winkel der Welt zurückziehen, ein ruhiges Leben führen, und sich von der Welt unbefleckt erhalten. Danach leben wir – weil wir‘s so gelernt haben und es bequem finden. Und lassen dann den Herrn an der Welt arbeiten – Herr-Herr-Sager, die zu bequem sind, nach seinem Willen auch nur zu fragen.

Seht: Wir glauben diesen Herrn Jesus Christus – das soll dann aber nicht ein Glauben aufs Ungefähre hin sein. Wir wissen: Er ist der Herr! Aber dieser Herr ist kein anderer, als der durch diese Welt ging! Da können wir sein Werk studieren – und vielleicht merken wir dann doch auch, wo er dabei ist! Als sie ihn damals fragten nach jenen Galiläern, und den Achtzehn, auf die der Turm von Siloah fiel – und meinten, jetzt müsse er doch die geheiligte Grenze zwischen den Guten und den Bösen, den Schuldigen und den Unschuldigen anerkennen und bestätigen – damit man sich guten Gewissens auf diese Grenze einlassen und an sie halten können – da hat er die Frage und die Solidarität der Schuldigen hineingezwungen. Denn allein aus dieser Gemeinschaft der Schuldigen, die gedeckt und bewahrt ist durch ihn und sein unschuldiges Opfer, erhebt sich die neue Welt des Reiches Jesu Christi.

Er arbeitet dran – und wenn uns das nicht passt und gefällt – meint ihr, damit könnten wir sein, Christi Reich zu Fall bringen? Meint ihr, wir könnten mit unserem Festhalten an den überkommenen Grenzen, mit unserer Zähigkeit, Trägheit, mit unseren Sicherheitsvorkehrungen die Grenzen halten – die durch ihn überholt sind? Eine gefährliche Sache, muss hier gesagt werden – aber sei‘s drum!

Keine Grenze, die gewaltsam zwischen Mensch und Mensch trennt, hat hier eine Zukunft! Wohl gemerkt – das ist nun eine politische Maxime, und die hat ihre Folgen. Nicht nur der Mauerbauer Ulbricht ist angesichts des Werkes Jesu – er treibt es, faktisch und objektiv, ob wir‘s merken oder nicht, ob wir dabei sind oder nicht – ein überholte Figur und seine Grenze ist überholt und überlebt, ehe er sie befestigt hat! Nein! Wir die wir am erreichten Status kleben und ihn halten wollen (Gründe finden wir schon. Aber sind‘s Angesichts des Werkes Jesu nicht bloß Vorwände) – der Herr Professor, der es schon als Unverschämtheit empfindet, wenn man ihn nur beim Namen nennt, und der sich über die Zumutung entrüstet, mit anderen als seinesgleichen zu beraten und zu beschließen – der Landtagsabgeordnete (SDS oder der Wähler als Stachel mit dem der Träge getrieben wird; lass dir’s gefallen).

Vorausschau nach den Notwendigkeiten – dass dir die Zeit Jesu, die Zukunft nicht davonläuft (die Schulhäuser, gebaut und schon überholt! Die Aussiedlerhöfe, jetzt der Stolz der Landwirtschaftsämter, Fehlinvestitionen: Gemeindegrenzen, Besitzgrenzen als heilige Einrichtungen!)

Können wir‘s uns leisten – wo doch die Grenze zwischen reich und arm Lebensfrage wird! Sind wir denn darauf vorbereitet? Jesus Christus, der Herr, ist am Werk – bloß wir merken‘s nicht. Ist das eine Illusion, wenn ich sage: Unsere Zeit ist seine Zeit – ist‘s nicht unser einzige Hoffnung! Einwände: Grenzen müssen sein – der Geist ist immer aristokratisch! Aber der Heilige Geist ist ein Plebejer!

Ihr sagt: Gut ist gut und böse ist böse – ja wohl – aber gut ist allein Gott, der nicht den Tod der Sünder will. Recht muss auch recht bleiben – wenn ihr euch nicht besser, werdet ihr auch so umkommen!

Jesus ist schon lange am Werk – aufwachen und seine Welt nicht vergessen. Amen.

 

Ps 25

Schriftlesung 2. Kor 5,17-21

Predigt Lk 13,1-9

 

Herr Jesus Christus! Du trittst ein für diese Welt. Wir danken dir, dass du unsere Zeit in deine Hand genommen hast.

Du baust dein Reich unter uns. Öffne uns die Augen, dass wir dein Werk sehen.

Dir gehört die Zukunft. Gib uns willige Herzen; dass wir uns dieser Zukunft nicht verschließen.

Herr, du unsere Hoffnung: Nimm uns und leite uns deinen Weg, und führe uns in deine Herrlichkeit, damit wir dich anbeten und preisen in Ewigkeit.