3. Sonntag nach Trinitatis 14. Juni 1959           Wolfenhausen / Nellingsheim

 

268,1-4          Jesus nimmt die Sünder an (172)

293,1-6          Jesu, meine Freude (140)

279,1+2 Bei dir, Jesu, will ich bleiben (109)

504,4 O Gottes Sohn, du Licht (202)

1.Tim 1,12-17

Lk 19,1-10

 

Liebe Gemeinde!

Sie haben Jesus einen hässlichen Schimpfnamen zugelegt, weil sie sein Verhalten nicht verstehen und erst recht nicht billigen konnten: „Siehe, wie ist der Mensch ein Fresser und Weinsäufer, der Zöllner und der Sünder Geselle.“ Das hat sich Jesus sagen lassen müssen gerade deshalb, weil sie sich’s nicht erklären konnten, warum er nicht mit seinesgleichen verkehrte, mit anständigen, mit frommen, mit geachteten Leuten; warum er vielmehr sich mit jenen zweifelhaften Gestalten einließ, die zwar häufig recht viel Geld hatten, aber die ihren guten Namen darüber verloren. So erklärten sie es, warum er jetzt zum Beispiel in Jericho nicht bei irgend einem frommen und gesetzestreuen Bekannten abstieg, wo er vielleicht ein weniger üppiges Essen und einen geringeren Wein vorgesetzt bekommen hätte, aber dafür ein frommes und geistliches Gespräch bei Tisch hätte führen können. Stattdessen ging er zu Zachäus, von dem jeder wusste, dass er mit Betrug und Erpressung zu seinem Geld gekommen war. Warum? Seht – Jesu Landsleute konnten ihn in seinem Verhalten so wenig verstehen, dass sie sagten, das liege eben daran, dass es Jesus auf das Essen und Trinken ankomme, das er dort natürlich besonders gut und reichliche bekommen konnte. So haben sie ihn missverstanden! So, als ob er bloß ein rechter Genießer sei, dem nichts wichtiger ist, als die Freuden der Zunge und des Gaumens. So haben sie ihn missverstanden, wie uns das jenes Schimpfwort beweist, das Jesus seinen Gegnern einmal selber entgegen hielt:  „Siehe, wie ist der Mensch ein Fresser und Weinsäufer, der Zöllner und der Sünder Geselle.“

Wir, die wir Jesus als unseren Heiland verehren, wir können es heute eigentlich kaum mehr begreifen, wie es einmal zu jenem Missverständnis kommen konnte. Wie es dazu kommen konnte, dass die Leute meinten, Jesus sei einer jener primitiven Genießer, die nicht Schöneres kennen, als sich den Bauch mit gutem Essen voll zu schlagen und dabei noch ordentlich einen hinter die Pinte zu gießen! Und doch sollten wir eigentlich versuchen, gerade das zu verstehen. Denn gerade hier, an dem Verhalten Jesu, welches dieses in unseren Augen so seltsame Missverständnis hervor rief, gerade an diesem Verhalten können wir doch zugleich etwas von der innersten Tiefe seines Wesens erfassen.

Seht – missverstanden haben ihn Jesu Landsleute ja gerade deshalb, weil sie etwas  zu verstehen suchten, was ihnen ganz und gar unbegreiflich war. Weil sie zu verstehen suchten, was diesen doch gewiss frommen Mann, was diesen vollmächtigen Ausleger des Gotteswillens, diesen geistesgewaltigen Prediger, diesen wunderkräftigen Propheten und Dämonenaustreiber, - was ihn denn wohl bewogen haben konnte, bei Zachäus ab zu steigen. Das ist etwas gewesen, was sie nicht zusammen bringen konnten mit dem, was sie sonst von Jesus gesehen haben. Warum konnte er nur das machen? Warum konnte er sich nur so bloß stellen? Warum konnte er nur das ganze Ergebnis seiner Wirksamkeit so kaputt machen? Seht – dieser Zachäus, der war ja nach dem Verständnis der Leute, die Jesu Verhalten sahen, nicht nur ein Geschäftsmann, der durch zweifelhafte Praktiken schnell reich geworden war. Er war nicht nur ein Beamter, der zu jeder Zeit unbeliebten und gehassten Finanzbehörde. Sondern er war einer, der durch den Beruf, welchen er ausübte, und gewiss auch durch die Art, wie er diesen Beruf ausübte, sich ganz eindeutig gegen Gott und für den Unglauben entschieden hatte. Der sich eindeutig dafür erklärt hatte, er glaube nicht mehr an das, was die Bibel als Recht und Unrecht, als Gut und Böse bezeichne und wolle sich auf keinen Fall mehr daran halten. Sondern er lebe nach seinem eigenen Gesetz, und halte sich an das, was ihm gut und nützlich erscheine.

Seht – solche Leute, die stellt man heute vor Gericht, man sperrt sie ein, damit sie mit ihrer Schlechtigkeit ihren Mitmenschen nicht mehr schaden können. Und gewiss hätten es die Juden mit dem Zachäus und seinen Kollegen ebenso gemacht, wenn sie es gekonnt hätten; wenn nicht die eigentlichen Machthaber, die Römer, jene Leute gedeckt hätten. Weil man sie darum nicht einsperren konnte, hat man eben versucht, möglichst wenig Berührung mit ihnen zu haben.  Wenn ein solcher Zöllner sich im Gasthaus an einen Tisch setzte, nahmen die Anderen ihre Gläser und suchten sich einen anderen Platz. Wenn er einen Bekannten auf der Straße grüßte, so schaute der weg. Wenn er ein Familienfest feierte, so folgte niemand seiner Einladung. – So hielten es die >Juden, um zu zeigen, es diesen Verächtern der Gebote Gottes zu zeigen: Recht ist doch Recht und Unrecht Unrecht, auch wenn die Macht jetzt leider das Unrecht stützt und dem Rechte nicht beisteht. Das hatte Zachäus erfahren müssen, und darum wagte er es gar nicht, zu Jesus zu kommen, um etwa seine Predigt anzuhören – denn die Anderen wären aufgestanden, und hätten das Lehrhaus verlassen, wenn er gekommen wäre. Und darum hatte er nur den einen, ganz bescheidenen Wunsch, Jesus wenigstens von Ferne zu sehen. Und darum war er auch von so unbändiger Freude erfüllt, als er merkte, dass Jesus wirklich mit ihm kommen werde.

Die Anderen, die verstanden das nicht. Die konnten nicht begreifen, warum Jesus das tat. Warum er die völlige Isolierung durchbrach, in welche jener Mensch durch sein Verhalten gekommen war, welche ihn keinen anderen Umgang als den mit seinesgleichen ermöglichte. Mit Zöllnern, mit Dirnen, mit anderen Sündern, die in gleicher Weise die Ächtung durch die anständigen Menschen erleben mussten. Sie verstanden es nicht, die Juden, warum Jesus einen solchen Umgang pflegte, und darum kamen sie zu der seltsamen, für uns so völlig unwahrscheinlichen Erklärung, es sei Jesus eben um das besonders gute Essen und Trinken zu tun, welches ihm dieser Reiche bieten konnte. Und damit waren sie fertig mit Jesus: „Siehe, wie ist der Mensch ein Fresser und Weinsäufer, der Zöllner und der Sünder Geselle.“ – Und darum sollte ein anständiger und frommer Mensch mit  ihm nichts zu tun haben.

Wir können die Geschichte von Jesu Einkehr bei dem Zöllner Zachäus nur begreifen, wenn wir uns das für seine Zeitgenossen so Unerklärliche, so Missverständliche klar machen. Warum hat er sich denn über die Grenze hinweg gesetzt, die Gesetz und Sitte gezogen hatten, um den Gläubigen vom Ungläubigen, den Gerechten vom Ungerechten, den Guten vom Bösen zu trennen? Hat Jesus gar wirklich Recht und Gesetz, hat er Gottes Gebot, hat er den Willen, Gutes zu tun, missachtet? Wir sind so selbstverständlich daran gewöhnt, liebe Freunde, Jesus als den Vertreter des Guten, des Gerechten, des göttlichen Gebotes zu sehen, dass wir nur schwer zu begreifen vermögen, wie er in den Augen seiner Landsleute erschienen ist: Als der, welcher die Grenze zwischen Gut und Böse, zwischen Anstand und Unmoral zerriss. Er hat gerade das nicht getan, was wir eigentlich von ihm erwarten sollten. Er hat gerade nicht sich für die Ordnung, für die Mora, für den Anstand eingesetzt. Sonst hätte er nicht gerade den so unmoralischen und schlechten Zachäus durch seinen Besuch auszeichnen dürfen. Er hätte vielleicht, als er den Zachäus auf dem Baum sitzen sah, ihn anreden können, hätte ihn auffordern können, ein neues Leben zu beginnen. Er hätte ihm sagen können: Wenn du dann gezeigt hast, dass es dir Ernst ist mit deinem neuen Leben, wenn ich einmal Gutes von dir gehört habe, dann will ich dich besuchen. Aber vorher, da habe ich nichts mit dir zu tun. – Hätte er nicht so handeln sollen – Jesus? Seht, gerade wenn wir das einmal begriffen haben, wie seltsam Jesu Verhalten gewesen ist, gerade dann werden wir etwas von dem Geheimnis erfassen, das seine Person umgibt. Gerade dann werden wir erfassen, wie schwer es doch fällt, ihn in unsere Welt einzuordnen. Denn besteht diese Welt nicht dadurch, dass es eben Gut und Böse gibt, dass es gerecht gibt und ungerecht, dass Gottes Gebote gelten in ihrer Unverbrüchlichkeit, und dass der, welche diese Geltung missachtet, der Strafe verfällt? Dass er die Anklage des Gewissens spürt in seiner Brust, dass man mit dem Finger auf ihn zeigt, dass die anständigen Menschen von ihm fern halten?

Jesus hat sich daran nicht gehalten. Jesus hat sich um Recht und Unrecht, Gut und Böse anscheinend gar nicht gekümmert, sondern hat den Zöllner Zachäus besucht; er hat auch keine religiösen Gespräche mit ihm geführt, um ihn zunächst einmal zu bekehren, sondern er hat ganz einfach sich hin gesetzt und hat gegessen und getrunken mit diesem Mann, und hat damit seinen Ehre mit ihm geteilt – und hat die Schande, welche Zachäus doch gerechter Weise wegen seines Lebenswandels auf sich nehmen musste, mit getragen.

Warum hat er das getan? Jesu Antwort ist sehr schlicht und sehr einfach: „Auch er ist Abrahams Sohn.“ Wir könnten es noch umfassender sagen: „Auch er ist ein Mensch, den Gott geschaffen hat.“ Das hat Jesus getan – den Menschen Zachäus gesucht und gefunden, den Menschen, welcher seine Freude haben sollte, dass Gott ihn nicht ganz und gar vergessen habe. Den Menschen, der erfahren sollte, dass er nicht ausgestoßen und verloren war, sondern auch mit dazu gehören sollte. Diesen Menschen zu suchen und zu finden, das war Jesu Werk, und um dies Werk zu tun, hat er nicht gefragt nach Recht und Unrecht, nach Moral und Anstand und Glauben. Hat er sich nicht gekümmert um die böse Nachrede, und Hass und Verachtung und Schande, die ihm dadurch zufielen. Wichtiger als dies alles war ihm der Mensch Zachäus.

Seht – es ist wohl schon eine aufregende Sache, wenn wir dieses Bild Jesu bemerken, wenn wir diesem für seine Zeitgenossen so auffälligen und absonderlichen Zug seines Wesens nachgehen. Wenn wir uns fragen, haben wir Christen, hat die Kirche, hat unser Glaube diesen Zug im Vermächtnis Jesu bewahrt. Oder sollten wir über all den vielen und großen Gedanken unseres Glaubens dies einfache verloren haben, auf was es Jesus ankam? Dies ganz einfache, dass er zu Zachäus, dem Bösewicht, hinging und ihm zeigte: Auch du, Mensch, gehörst mit dazu. Auch du bist nicht allein. Auch du sollst dich freuen ... Amen.