6.n.Trinitatis 9. Juli 1961  Wolfenhausen / Nellingsheim

 

337,1-5               Du höchstes Licht (8)

246,1-5               Ein wahrer Glaube (99)

246,8

147                     Oh Gott und Vater (76)

347,8-10            Lobet den Herren (163)

 

1.Kor 13

Mt 5,21f.27f.33f

 

 

Liebe Gemeinde!

Wer seinen Bibeltext im Ohr hat, der wird gemerkt haben, dass ich eben bei der Verlesung dieser Worte Jesu, welche uns Matthäus in der Bergpredigt zusammengestellt hat, ein ganze Reihe von Versen ausgelassen habe. Ich meine aber auch, das sollten wir ruhig einmal tun, denn damit wird uns einiges deutlicher werden von dem, was Jesus sagen wollte. Wir werden das gerade dann erfassen, wenn wir gleichsam nur das Gerüst seiner Worte ins Auge fassen. Dann gerade merken wir besonders deutlich das Gewicht, mit dem Jesus seine eigenen Sätze dem Gottesgebot des Alten Testamentes entgegen stellt: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist …., ich aber sage euch ….“ (Zit. Den ganzen Text).

Versuchen wir zu erfassen, was Jesus tut, wenn er so sein eigenes Wort dem Gotteswort des Alten Bundes entgegen stellt. Ganz gewiss wird man nicht sagen können, dass er durch sein Wort jenes alte Gotteswort außer Kraft setzen will. Vielmehr könnte man schon sagen, dass er die Gebote bzw. die Verbote des Alten Bundes in einer ungeheuren Weise verschärft.

Ist dort das Töten, die vollzogene Handlung, verboten, so hier schon der Zorn, welcher zu solch einer Handlung führen könnte. Ist dort der Ehebruch verboten, so hier schon die Gesinnung, das Begehren des Herzens, welches zu solcher Handlung führen könnte. Ist dort der Meineid verboten, der falsche Schwur, so hier jeder Schwur überhaupt!

Freilich: So können wir Jesu Worte verstehen, dass er über die altbekannten Gebote des Alten Testaments hinaus seinen neuen, seine verschärften Gebote gibt. Dass der, welcher diese Gebote halten möchte, nun nicht bloß seine Handlungen zu bezähmen hat, in seinem Tun sich nach dem Gebot richten soll, sondern dass er schon auf seine Gesinnung achten muss, schon diese Gesinnung genau beobachten und kontrollieren muss, um dem gerecht zu werden, was Jesu Worte von ihm fordern. So können wir also dies „Ich aber sage euch ….“ Jesu verstehen: Dass es nicht nur auf unsere Handlungen ankommt, sondern vielmehr noch auf die rechte Gesinnung. Und dass wir darum, wenn wir die Gebote befolgen wollen, viel mehr beachten müssen als nur dies, dass wir uns nicht mit unseren Handlungen gegen sie vergehen. Dass vielmehr auch unsere Gesinnung mit gilt und mit gerichtet wird. Natürlich machte es eine solche Verschärfung der Gebote viel schwerer, diese Gebote zu halten. Ja, eigentlich machte sie es unmöglich, das Gebotene wirklich zu tun. Denn unsere Handlungen, die können wir schon so weit im Zaum halten, dass wir nicht gerade einen Mord oder einen Ehebruch begehen – aber unsere Gesinnung so zu beherrschen, dass kein Zorn, dass  kein ungutes Begehren in uns empor steigt – ist denn auch das möglich? Müssen wir dann nicht tatsächlich sagen: Die Gebote so zu halten, wie Jesus das verlangt, das ist einfach menschenunmöglich. Wenn mich einer ärgert, dann steigt eben der Zorn in mir auf – ob ich’s will oder nicht! Oder wenn ich eine Frau sehe, die mir gefällt, dann kommt eben das Begehren, ob ich will oder nicht. Es ist menschenunmöglich, was Jesus da verlangt; und weil es unmöglich ist, darum muss ich mir auch keine allzu großen Vorwürfe machen, wenn ich es nicht zu halten vermag! Es mag sein, liebe Freunde, dass wir zu solchen Gedanken kommen, gerade dann zu solchen Gedanken kommen, wenn wir ernsthaft über diese Worte Jesu nachdenken.

Doch sind sie wirklich so gemeint? Sind sie wirklich so gemeint, dass sie die Gebote des Alten Bundes soweit verschärfen sollen, dass es nicht mehr menschenmöglich ist, sie zu halten? Meinet ihr wirklich, so sei Jesus, dass er etwas Menschenunmögliches von uns verlangt, womöglich, um uns eben damit zu zeigen, was für schlechte und was für gottlose Menschen wir sind? Ich glaube nicht, dass es so ist. Glaube nicht, dass das seine Absicht gewesen ist, als er diese Worte gesprochen hat, seine Hörer mit der ungeheuren Wucht seiner Forderung gleichsam zu zerschmettern und zu vernichten. Vielmehr: Er wollte mit diesen Worten gewiss nicht die Erfüllung der alttestamentlichen Gebote so erschweren, dass sie für einen Menschen unmöglich würden. Er wollte durch seine Worte vielmehr dazu anleiten, diese Gebote wirklich zu erfüllen, ihren echten, eigentlichen Sinn zu erfüllen.

Seht – man kann diese göttlichen Gebote gar zu leicht missbrauchen. Man kann aus diesen Geboten gleichsam einen dichten, hohen Bretterzaun bauen, hinter welchem man ungestört und unbehelligt von Gott und Menschen allein für sich dahin lebt. Gewiss sind sie nicht so gemeint, diese göttlichen Gebote – aber wie gesagt: Wir Menschen können sie dazu gebrauchen, solche einen Zaun um uns herum aufzubauen, hinter welchem wir schön unbehelligt von den Ansprüchen, die Gott und die Menschen um uns stellen könnten, dahin leben. Dabei lassen wir sie ganz gewiss gelten, diese Gebote, ja, wir bezeugen eine hohe Achtung vor ihnen. Wir sind sehr gewissenhaft darauf bedacht, diese Gebote zu halten, und ja nichts zu tun, was diesen Geboten widersprechen könnte. Und das ist ja sicherlich auch gut und schön  und richtig. Aber gerade damit können wir den Sinn dieser Gebote Gottes verkehren. Wir suchen sie zu halten. Und ganz gewiss wird uns das, aufs Große und Ganze gesehen auch gelingen. Aber gerade das kann uns dann dazu verführen, dass wir uns auf unsere Rechtschaffenheit etwas einbilden. Dass wir glauben, damit hätten wir nun doch unsere Pflicht und Schuldigkeit getan – Gott gegenüber wie den Menschen gegenüber, und brauchten uns gewiss nicht vorzuhalten, selber nicht, und brauchten uns auch von sonst niemand etwas vorwerfen zu lassen. Gewiss – das können wir – so  uns in Zucht halten, dass wir mit keiner unserer Handlungen gegen Gottes Gebote verstoßen. Aber gerade damit bauen wir jenen Zaun um uns herum, jenen Zaun aus den Geboten, hinter welchem wir ruhig und ungestört leben können – wenigstens bilden wir uns das ein!

Was geschieht da? Seht, liebe Freunde – da wird der Sinn der Gebote Gottes ins Gegenteil verkehrt. Statt dass uns diese Gebote dazu anleiten, in rechter Weise miteinander zu leben, machen wir sie zu einem Bollwerk, hinter welchem wir unsere Ruhe haben wollen. Wir sehen wohl noch die Gebote, aber wir sehen die Menschen nicht mehr, um derentwillen die Gebote gegeben sind. Wir sehen beispielsweise wohl das Gebot: Du sollst nicht töten, und hüten uns, dieses Gebot zu übertreten. Aber wir meinen, dem sei ja schon damit Genüge getan, dass wir unsere Mitmenschen so weit in Ruhe lassen, dass wir uns gewiss nicht zu Tätlichkeiten gegen sie hinreißen lassen. Wir lassen sie in Ruhe, und sie sollen uns in Ruhe lassen – dann, so meinen wir, dann sei doch Gottes Gebot bewahrt. Oder: Wir sehen das Gebot: Du sollst nicht ehebrechen. Und hüten uns dagegen mit unzüchtigen Handlungen zu verstoßen. Und meinen, damit hätten wir ja dem Gebot Genüge getan, hätten unsere Ehe bewahrt, und die Ehe anderer, welche wir nicht stören wollen. So, meinen wir, seien wir ja genau dem nachgekommen, was Gott mit seinen Geboten von uns haben will.

Seht: Gegen solches Denken, gegen solches Tun richten sich Jesu Worte. Richten sich gegen den Versuch, aus den Geboten einen dichten Zaun der Rechtschaffenheit zu bauen, hinter welchem wir dann vor Jedermann unsere saubere Ruhe zu haben glauben. Er, Jesus, stößt mit seinen Worten diesen Zaun um, hinter welchem wir uns gar zu gerne verschanzen wollen, und zeigt, dass das gerade nicht genügt, sich an die Gebote, oder sagen wir besser, denn so ist es ja in Wahrheit, sich an die Verbote Gottes zu halten, und sich damit zu begnügen, diese Verbote zu achten. Denn damit ist’s nicht getan, will Jesus zeigen. Damit ist’s nicht getan, einfach die von Gott verbotenen Handlungen zu unterlassen und sich dann einzubilden, man sei ein rechtschaffener Mensch. Vielmehr: Dann, so sagt Jesus, dann soll auch die Gesinnung gelten. Und wie vermag einer seine Gesinnung zu kontrollieren, der nur auf sich selber und seine Rechtschaffenheit bedacht ist? Wie vermag einer sich vor dem Zorn zu hüten?

Wohl, dazu gibt es einen Weg. Das ist der Weg der Liebe, welcher den anderen, den Mitmenschen, ganz und gar gelten lässt. Welcher ihn sogar dort gelten lässt, wo er uns in die Quere kommt. Das will das Gebot Gottes: Du sollst nicht töten! – Dass wir einander gelten lassen, einander ganz und gar und ohne jede Einschränkung gelten lassen! Das aber kann nicht so geschehen, dass wir nur das Gebot kennen, das wir nur auf das Gebot achten, uns nur hüten, dieses Gebot zu übertreten. Denn damit lassen wir ja gerade bloß das Gebot gelten – und unsere eigene Rechtschaffenheit, die sich an dieses Gebot hält. Statt dass wir den Mitmenschen gelten ließen, um deswillen das Gebot gegeben ist. Wenn wir uns vor Ehebruch und Unzucht hüten – so meint Jesus, dann ist das gerade nicht genug. Vielmehr: Wir sollen unseren Ehegatten lieben und achten – dann werden wir nicht an Ehebruch denken. Wenn wir nur darauf sehen, dass das, was wir mit einem Eid bekräftigen, der Wahrheit entspricht, dann ist das nicht genug. Vielmehr: Jedes Wort, das wir sagen, soll so wahr sein, wie wenn es feierlich geschworen wäre, denn nur so gibt es ja das gegenseitige Vertrauen, von dem unsere menschliche Gemeinschaft lebt!

Seht: Nichts Unmögliches verlangt Jesus, sondern das ganz einfache Tun, das die Gebote erfüllt – nicht um der Selbstbestätigung der eigenen Rechtschaffenheit willen, sondern weil es notwendig ist, wegen der Menschen, mit welchen wir zusammen leben. Begreifen wir das doch! Dann merken wir, was er meint, wenn er sagt: Mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht. Amen.