Rogate, 2. Mai 1959 Wolfenhausen / Nellingsheim

282,1-7      Wenn wir in höchsten Nöten (247)

185,1-5      Herr, der du vormals (17)

105,9.10    Erhebe dich und (Zeuch ein zu deinen Toren) (276)

151,1-4      Liebster Jesu, wir sind hier (160)

105,12+13

Ps 77

Mt 6,10b: Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel.

 

Liebe Gemeinde!

Überall im Bereich der Evangelischen Kirche in Deutschland wird der heutige Hauptgottesdienst als ein Bittgottesdienst gefeiert, ein Bittgottesdienst im Blick auf das, was in diesem Monat über unser Volk entschieden werden soll; der evangelische Oberkirchenrat in Stuttgart hat als Text für diesen heutigen Gottesdienst die dritte Bitte des Vaterunsers vorgeschrieben. Seht – das sollten wir zunächst einmal wissen: Nicht nur wir hier sind beieinander mit unserem Gebet, und sind beieinander, um auf das Schriftwort zu hören – es geht darum, dass wir uns bewusst mit allen denen vereinen, die beieinander sind, um zu beten, und beieinander sind, um zu hören!

Freilich, nun wird es auch notwendig sein, dass wir uns über das Ziel dieses gemeinsamen Betens verständigen – und wie könnten wir das besser tun, als wenn wir jene Worte betrachteten, die Jesus seine Jünger gelehrt hat, um ihnen zu zeigen, wie sie recht beten sollen.

„Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel!“ – Das zu beten, ist doch eigentlich eine recht seltsame Sache. Denn – können wir’s uns anders denken, als dass Gottes Wille eben geschieht. Wäre er noch Gott, wenn er mit seinem Willen zurück halten würde, wenn er anderen Mächten den Raum überlassen würde, wenn nicht sein Wille, sondern ein fremder Wille geschehen würde?

Seht, gerade da werden wir hingewiesen auf ein ganz wichtiges Merkmal unseres Glaubens – etwas, was ihn von jeder Art von Schicksalsglauben unterscheidet. „Gott will es“ – mit diesen Worten schickt sich etwa der Mohammedaner in alle Widerwärtigkeiten, die ihm begegnen. „Gott will es“ – das kann für uns die Entschuldigung sein, dass wir uns eben treiben lassen, dass wir hinnehmen, was nun einmal unabänderlich erscheint. „Gott will es“ – das zu sagen, kann wohl einmal eine rechte Entscheidung unseres christlichen Glaubens sein. Aber wenn Jesus uns so zu Gott beten lehrt: „Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel“ – so ist das nun doch etwas ganz anderes als ein Sichfügen, als ein Sichbeugen unter die Macht eines überwältigenden Schicksals, dem wir uns eben nicht entziehen können. Wenn Jesus uns beten lehrt: „Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel“ – dann heißt das: Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass Gottes Wille geschieht, auf Erden nicht und im Himmel nicht. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass Gottes Wille geschieht – sonst wäre es sinnlos, dass wir darum beten! Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass Gottes Wille geschieht: Denn so hat Gott uns Menschen geschaffen, dass wir frei sind. Dass wir frei sind, seinen Willen zu tun, und dass wir frei sind, nicht seinen Willen zu tun, einen anderen, unseren eigenen, unseren bösen Willen zu tun.

Das werden wir zunächst einmal zu erfassen haben: Indem Jesus uns beten heißt: Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel – indem Jesus uns so beten heißt, heißt er uns darum zu bitten, dass wir Gottes Willen vollbringen! Dass wir Gottes Willen vollbringen, damit dieser Wille wirklich sich vollzieht. „Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel“ – damit das wahr wird, ist  uns also aufgetragen, nach dem zu fragen, was denn nun wirklich Gottes Wille ist. Freilich, das ist ein Unterfangen, mit dem wir nie zu Ende kommen können, dies Fragen nach dem Willen Gottes. Doch wir haben ja heute auch nicht so ganz allgemein nach diesem Willen Gottes zu fragen. Vielmehr sind wir in eine bestimmte Richtung dieses Fragens gewiesen dadurch, dass uns aufgetragen ist, zu bitten um das Geschehen von Gottes Willen im Hinblick auf das politische Schicksal unseres Volkes!

Was ist hier Gottes Wille? Was ist Gottes Wille mit unserem Volk, dessen staatliche Einheit zerbrochen ist? Was ist Gottes Wille im Hinblick auf dieses geteilte Volk, das in die Gewalt derer gegeben ist, die den Sieg im letzten Kriege davon getragen haben? Seht – wir sind leicht geneigt zu sagen: Wir wissen es nicht. Wir kennen Gottes Willen nicht, wir wissen nicht, wie es weiter gehen wird, wissen gewiss nicht, wie die Genfer Außenministerkonferenz verlaufen wird. Wir wissen es wirklich nicht, wie dies alles weiter gehen wird, liebe Freunde. Aber, wenn wir im Blick auf dies Geschehen, das da im Gange ist, beten: Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel! – dann beten wir so ja nicht im Hinblick darauf, was geschehen wird, sondern im Hinblick darauf, was geschehen soll! Und da meine ich, wüssten wir wohl eher Bescheid. Wüssten wir schon, was richtig wäre, was geschehen sollte! Was geschehen sollte, wenn wir, die deutsche Christenheit, Gottes Willen zu tun bereit wären. Seht, das müssen wir gerade heute vor Augen haben, wir Deutschen, die wir Gottes Willen erkennen, und diesem Willen dienen wollen: Dieser Wille Gottes weist uns aneinander. Weist uns zusammen, die wir ein Volk sind. Weist uns gerade in der Not unseres Volkes aneinander. Nur auf eines möchte ich hinweisen, um das zu begründen: Das ist unsere gemeinsame Schuld. Unsere gemeinsame Schuld, dass wir den Frieden gebrochen haben, dass wir den Weg des Krieges gegangen sind! Das muss am Anfang unserer Erkenntnis stehen – dies Eingeständnis unserer gemeinsamen Schuld. Was wir jetzt als Volk zu erdulden haben – und ich will hier die Frage nach Recht oder Unrecht einmal ganz aus dem Spiele lassen – das ist die direkte Folge unserer deutschen Schuld. Es ist unsere Schuld, dass wir den braunen Machthabern unser Vertrauen geschenkt haben, es ist unsere Schuld, dass wir uns haben verhetzen lassen, es ist  unsere Schuld, dass wir den Befehlen folgten, die uns geheißen haben, Unrecht zu tun. Das alles ist unsere Schuld, unsere gemeinsame, deutsche Schuld. Seht – diese Schuld, die verbindet uns. Sie schließt uns zusammen, schließt uns zusammen vor Gott und den Menschen. Und darum soll es unser Wille sein, diese Schuld gemeinsam zu tragen. Wir können es doch gewiss nicht sagen: Überlassen wir es den anderen, diese Schuld mit all ihren bösen Folgen auf sich zu nehmen. Überlassen wir es denen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden, überlassen wir es denen, die unter der kommunistischen Herrschaft leben müssen, für diese Schuld zu büßen. So dürfen wir nicht sagen! Es ist nicht die Schuld der Preußen oder der Sachsen, der Schlesier oder der Pommern – es ist unsere deutsche Schuld. Und darum geht uns alle miteinander an, was aus dieser Schuld an Unheil entstanden ist.

So soll es sein: „Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel“ – das heißt im Blick auf unser deutsches Volk: Wir tragen miteinander Schuld an dem, was über dieses Volk gekommen ist. Darum sollen wir auch das Unheil, das aus dieser Schuld geflossen ist, gemeinsam tragen. Ich glaube, dass es sehr notwendig ist, dass wir Bürger der Bundesrepublik uns da recht deutlich vor Augen halten, die wir so rasch bereit sind, eben an uns selber zu denken. An unsere Sicherheit, an unseren Wohlstand, an unsere Freiheit. Und die wir darum so wenig bereit sind zum Risiko, zu einem militärischen, politischen, wirtschaftlichen Risiko – zu einem Risiko um derer Willen, welche mit uns verbunden sind durch die gemeinsame deutsche Schuld. – Sind wir bereit, ihnen zur Seite zu stehen in dem Unheil, das sie betroffen hat, während wir noch einmal so halbwegs gut davon gekommen sind? Sind wir bereit, Gott darum zu bitten, dass wir ihnen in ihrer Not zur Seite stehen können? Seht, Es genügt eben nicht, wenn wir mit dem Gedanken unsere Hände falten: Es wird so oder so doch eben Gottes Wille geschehen! Dann können wir das Beten gleich bleiben lassen! Dann brauchen wir Gott nicht zu bemühen. Wenn wir beten: „Dein Wille geschehe“ – so heißt das: Herr, gib du uns die Kraft und den festen Vorsatz, mit zu tragen, was unsere gemeinsame Schuld an Unheil über uns gebracht hat.

Das müssen wir wissen, müssen wir uns vorhalten, müssen wir vor allem Vergessen hüten – dieses Wissen und diese Bitte. Mit einem Lippenbekenntnis zur Wiedervereinigung unseres Volkes ist es nicht getan. Einem Lippenbekenntnis, hinter dem dann nur der Wille steht, nur ja nichts aufzugeben von der eigenen Sicherheit, nur den eigenen Wohlstand nicht zu gefährden, nur die eigene Macht fest zu halten.

„Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel“ – das heißt, sich hinein zu stellen in jene gemeinsame Not, die gemeinsame Schuld zu erkennen und nach dem Weg zu fragen, der uns gemeinsam aus dieser Not heraus zu führen vermag.

Doch wir werden unseren Blick weiten müssen, wenn wir es recht beten wollen im Blick auf die politischen Entscheidungen, die vor uns liegen, jenes Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel. Werden auch das mit aufnehmen in unser Gebet, dass wir dem Frieden unter den Völkern nahe kommen. Ich habe mir lange überlegt, was das wohl heißen solle – „wie im Himmel“. Ist nicht Himmel der Ausdruck für den Raum der uneingeschränkten, der wahren Herrschaft des Gotteswillens? Aber warum sollen wir dann beten „ Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel“? Ich denke, es sei nicht dies gemeint, dass die Art, wie Gottes Wille im Himmel geschieht, Vorbild dafür sein soll, wie er nun auch auf Erden zu geschehen hat. Vielmehr wird hier bei dem Wort Himmel an den Ort gedacht sein, wo sich die bösen Geister befehden. Jene Geister, die eine furchtbare und verwirrende Macht haben, die Menschen zu verhetzen und ins Unheil zu stürzen. Meint ihr, der einzelne Mensch sei unser Feind – wolle uns Übles, der russische Mensch oder der polnische, oder der chinesische? Und doch können sie nicht in Frieden mit uns leben, und wir rüsten uns gegenseitig, Tod und Vernichtung übereinander zu bringen. Natürlich nur zu Verteidigung. Aber „notfalls führen USA den ersten Schlag“ – hat es gestern als Schlagzeile in der Zeitung gestanden. Diesen bösen Geistern in der Luft, den Geistern der Angst, des Misstrauens, des Hasses unter den Völkern die Macht zu nehmen, das ist Gottes Wille, wie er im Himmel geschehen soll. Und wieder werden wir uns fragen müssen: Vertrauen wir auf Gottes Willen, und sagen der Angst, dem Misstrauen, dem Hass ab?

Seht, wir sind zum Gebet gerufen, zu einem Gebet, das der Erhörung gewiss ist. Aber dies Gebet berechtigt uns nicht dazu, dann die Hände in den Schoß zu legen in dem Bewusstsein, nun hätten wir das Unsere getan. Vielmehr: Dies Gebet soll uns verpflichten, zu wollen, was Gottes Wille ist, und soll uns die Kraft schenken, es zu tun. Amen.