Spr 16,9

 

Friedrich Mildenberger, Das Menschenherz und sein Gott

Bibelwoche in Baudenbach 6.-11.2.1990

Eigenverlag, S. 5-14

 

1.1  Was das Menschenherz ist

Wenn die Bibel vom Menschen redet, dann redet sie oft gerade von seinem Herzen. Der ganze Mensch ist da gemeint, wie er seiner selbst gewahr werden kann. Sicher kann jeder von uns sein Herz auch fühlen. Und wir haben es alle schon erlebt, wie der Arzt mit seinem Stethoskop den Herzschlag überprüft. Aber wenn die Bibel vom Menschenherzen redet, dann ist mehr gemeint als diese Pumpe in unserer Brust, die unermüdlich das Blut durch die Adern treibt. Die lässt sich heutzutage ja sogar herausnehmen und auswechseln, und einige Menschen haben mit einem fremden Herzen in der Brust eine ganze Zeit gelebt.

Der ganze Mensch, wie er seiner selbst gewahr werden kann, der ist gemeint, wenn die Bibel vom Herzen redet. Gemeint sind dabei nicht bloß die Gedanken, die niemand kennt außer mir selbst. Gemeint ist auch, wie ich mich selbst fühle, wie mir ums Herz ist. Jeder weiß, wie das ist, wenn wir in uns hineinhören, wenn wir wahrnehmen, wie uns ums Herz ist. Manchmal hat einer dann auch den Drang, sein Herz jemandem auszuschütten, es einem anderen Menschen offen zu legen. Hoffentlich ist das dann auch jemand, der das nicht ausnützt und womöglich herumerzählt, was er da gehört hat, um sich wichtig zu machen. Sondern der bei sich behalten kann, was er vom Schmerz und von der Freude des anderen Menschen erfahren hat. Und der solchen Schmerz oder solcher Freude dann mit dem teilt, der ihm sein Herz geöffnet hat.

Doch wenn wir so nach unserem Herzen suchen, in uns hineinhören und fragen, wie es mit uns steht und weiter gehen soll, ist es gut, wenn wir dabei nicht allein bleiben. Es ist gut, wenn wir da Gottes Wort mitreden lassen. Denn wir meinen zwar mit einigem Recht, niemand kenne uns so gut, wie jeder von uns sich selber kennt. Aber solches Kennen hat seine Grenzen, und manches mal machen wir uns auch ganz schön etwas vor über uns selber. Das ist nicht gut. Wenn ich darum wissen will, wie ich mit mir dran bin, dann ist es gut, wenn dabei die Bibel mitreden darf.

Ich fange darum bei unserer Frage nach dem menschlichen Herzen mit einem Wort aus den Sprüchen Salomos an:

Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg; aber der Herr allein lenkt seinen Schritt. (Spr 16,9)

Rastlos ist unser Herz in Bewegung. Nicht nur der Muskel bewegt sich, der nicht aufhört, zu schlagen, solange wir leben. Auch die Gedanken, auch die Gefühle hören nicht auf. Rastlos geht das fort in unserem Inneren. Manchmal bemerken wir das gar nicht so genau, weil wir auf anderes achten müssen. Aber unser Herz hört nicht auf, sich seinen Weg zu erdenken. Nicht einmal im Schlaf gibt es Ruhe. Vielleicht schrecken wir dann plötzlich hoch, weil uns ein böser Traum geängstigt hat. Oder wir wachen froh und guten Mutes auf, weil gute und helle Träume unseren Schlaf begleitet haben. Auch wenn da im Schlaf der Kopf ausgeruht hat: Das Herz hat sich weiter bewegt.

So erfahren wir uns selbst, in unserem Inneren, in unseren Herzen. "Das Menschenherz erdenkt sich seinen Weg". Pläne können das sein, die wir machen. Aber zu allererst sind es doch Träume. Träume, die wir nicht nur im Schlaf träumen. Sondern erst recht Träume, die wir im Wachen träumen. Solange wir leben, hört unser Herz nicht auf mit solchem Träumen. Und je weniger wir träumen, desto weniger leben wir noch!

Da denkt sich einer dann aus, wie er selbst sein sollte. Und er denkt sich aus, wie die Leute sein sollten, und wie die Welt sein sollte: Das wäre das Richtige, wenn es nach meinem Traum ginge! Wenn ich Tennis spielen könnte und auch das große Geld machen. Wenn mir die Arbeit leichter fiele, und ich weiterkommen könnte und hätte Erfolg. Wenn die Leute merkten, was ich für ein guter Mensch bin, und kämen mir freundlich entgegen, und ließen mich gelten: Gut wäre das und schön.

Ich habe da ein altes schwäbisches Volksliedlein im Kopf. Auf schwäbisch muss ich das sagen, so, wie ich es gelernt habe:

I, wenn I Geld gnuag hett

Na wisst I, was I däht,

na wisst I was I däht,

O, dees war schee!

Sein Häuslein träumt er sich, der dieses Liedlein singt. Und in dieses Häuslein hinein gehört dann natürlich sein Mädchen:

Grad so wie's Schulze Gret,

die, wenn mi nemme däht -

Die, wenn mi nemme däht,

O, dees war schee!

So träumt unser Herz seine Träume, erdenkt sich seinen Weg. Aber jeder weiß auch: So ist das nicht, wie wir es uns erträumen.

Vielmehr: Das Herz, unser Innen, das begegnet einem Außen, das sich scheinbar überhaupt nicht nach dem richtet, was sich das Herz ausgedacht hat. Ganz anders sieht es da aus, als wir das gerne hätten. Und das Herz muss sich schicken in das, was ihm da begegnet. Durch die Träume dieses Herzens lässt sich die Welt ja nicht ändern. Wir brauchten viel, viel Macht, wenn wir die Welt samt den Menschen, die uns in dieser Welt begegnen, auch nur ein bisschen nach unseren Träumen ändern wollten. Vielleicht ließe sich da etwas machen, wenn einer viel, viel Geld hätte. Darum singt das Liedlein, das ich eben angeführt habe: "I, wenn I Geld gnuag hett!" Aber wann wäre das genug, um unsere Träume wahr werden zu lassen!

Wir können nicht anders, wir müssen uns in diese Welt schicken, so, wie sie nun einmal ist. Jeder muss das lernen, und mancher muss es mühsam lernen. Wund kann da ein Herz werden, und hart und stumpf und fast schon leblos: Je weniger es träumt, desto weniger kann es sich stoßen an einer Welt, die sich seinen Träumen nun einmal nicht fügt.

Es erdenkt sich seinen Weg, unser Menschenherz. Die Träume sind das, die wir träumen. Und es sind die Pläne, die wir machen, und die sich einpassen sollen - die das Herz einpassen sollen in die Welt, die nun einmal so ist, wie sie ist. Und ich bin es ja nicht allein, der für sich Pläne macht. Andere planen mit, und oft genug über meinen Kopf und erst recht über mein Herz hinweg. Die Eltern wollen über die Schule, sie wollen über den Beruf bestimmen. Am Arbeitsplatz wird mir vorgesetzt, was ich zu tun habe. Und auch in der Freizeit muss ich mich nach den Anderen richten und nach ihren Moden und Wünschen, wenn ich nicht ein Einzelgänger und Sonderling werden will. Und mancher hat sich schon so daran gewöhnt, dass Andere für ihn planen, dass er gar nicht mehr allein sein kann. Und wenn niemand da ist, der ihm sagt, was er tun soll, ist er unglücklich und fragt sich: Was mache ich jetzt bloß?

"Das Menschenherz erdenkt sich seinen Weg": Gewiss, seine Träume träumt einer allein. Aber Viele planen und bestimmen dann mit, wie dieser Weg wirklich aussehen soll. Oft passt uns das nicht, und dann ziehen wir uns in unsere Träume zurück oder denken's uns aus: Vielleicht wird so ein Traum doch noch wahr. Da gibt einer seinen Lottoschein ab und setzt seine zwei oder fünf oder zehn Mark ein. Warum tut er das? Seine Träume nötigen ihn dazu. Vielleicht, so denkt er sich, vielleicht gewinne ich doch einmal. Und dann können meine Träume wahr werden, wenigstens die, die sich mit Geld verwirklichen lassen.

So ist das mit unserem Herzen. Das denkt und hört nicht auf zu denken. Das fühlt und hört nicht auf zu fühlen. Rastlos ist das und lebendig in seinem Verlangen nach Glück. Das will doch jeder: Glücklich sein. Der Weg, den sich unser Menschenherz erdenkt, ist der Weg zum Glück.

Was das ist, Glück, und wie das ist, wenn wir glücklich sind, das wissen wir alle, auch wenn es einer vielleicht nicht so genau sagen kann. Glück, das ist, wenn mir gelingt, was ich vorhatte. Glück ist, wenn dem Herzen und den Wegen, die sich dieses Herz erdacht hat, eine Welt entgegenkommt, die ihm zu Willen ist. Da wird es dann wahr, was ich mir geplant und erträumt habe. Die Welt draußen ist so, wie sich das Herz das erdacht hat. Die Welt - das Stücklein Welt, das mir gerade so ganz besonders wichtig ist: Dass mein Leib gesund ist, dass der Mensch, den ich liebe, mit mir zusammen ist, dass der Beruf Freude macht, dass die Arbeit sich auszahlt, oder dass der Urlaub herausführt aus der alltäglichen Mühe, und ich da wenigstens einmal ganz anders sein kann. Das alles ist Glück.

"Das Menschenherz erdenkt sich seinen Weg". Er soll immer zum Glück führen, dieser Weg. Es lässt sich erträumen, solches Glück.

Aber lässt es sich auch planen, so planen, dass es dann auch wirklich kommt, dieses Glück? Unser Spruch sagt es: Das Herz drinnen in uns, das ist unermüdlich und rastlos und hört nicht auf, sich solches Glück zu ersinnen. Es will dieses Glück gewinnen. "Aber der Herr allein lenkt seinen Schritt"

Gott kommt ihm dazwischen, diesem Menschenherzen. So sagt das dieser Spruch. Und wir fragen nun danach, wie das denn aussieht, wenn Gott diesem Herzen und seinen Wegen zum Glück dazwischen kommt. Sicher können wir das leicht sagen: "Der Mensch denkt, Gott lenkt." Und sicher ist das ein wahres und wichtiges Sprichwort. Aber wie merken wir das, dass Gott lenkt? Dass er es ist, der unseren Träumen und Plänen dazwischen kommt? Dass er uns das Glück zuschickt, vielleicht auf ganz anderen, verschlungenen und seltsamen Wegen, die sich unser Herz nie erträumt und die es gewiss nicht geplant hätte?

Oft geht das ganz unbemerkt. Das Glück ist uns nahe, ohne dass wir das so richtig merken, weil die Träume und Pläne unseres Herzens es uns verstellt haben. Es ist eine gute Gewohnheit, zu beten, morgens und abends und zum Essen, damit wir nicht vergessen, was wir Gott verdanken: Das Glück, satt zu werden; das Glück, einen ruhigen Schlaf zu finden. Ein Glück ist das! Vielleicht erinnert sich mancher noch wie ich an die böse Zeit im Krieg, wo das gar nicht selbstverständlich war. Wo man nie so richtig satt werden konnte, sondern es war immer zu wenig auf dem Teller. Wo man nie richtig schlafen konnte: Kaum lag man im Bett und war ein bisschen warm geworden, dann heulten die Sirenen los, und es ging ab in den Luftschutzkeller, oft zwei-dreimal in einer Nacht. Gut ist es darum, wenn wir im Gebet Gott verdanken können, dass wir satt sind und ruhig schlafen können, und das nicht einfach selbstverständlich nehmen.

Aber dass der Mensch denkt und Gott lenkt, das sieht dann noch einmal anders aus als solche Erfahrung dieses einfachen Glücks, das wir Gott in unseren Gebeten verdanken. Oft genug will sich die Welt dem, was wir geplant haben, nicht fügen. Da habe ich mir eine Menge vorgenommen für den nächsten Tag. Und dann wache ich auf und habe Fieber. Was gemacht werden sollte, das geht einfach nicht. Oder ich habe mich auf irgendjemand verlassen in meinem Planen, und der enttäuscht mich.

Da kommt mir etwas dazwischen. Die Welt ist nicht so, wie ich das geplant habe. Mein Leib macht nicht mit, oder die Leute, mit denen ich zu tun habe, das Wetter oder das Auto oder sonst etwas, das ich brauche. Aber ist das dann schon Gott? Können wir sagen: Da siehst du's, dass der Mensch zwar denkt, aber Gott lenkt? Ich weiß nicht. So schnell geht das nicht, dass wir gleich "Gott" sagen können, wenn irgendetwas dazwischen kommt.

An eine biblische Geschichte denke ich da. Sie ist wohlbekannt, so dass ich sie gar nicht ganz zu erzählen brauche. Es ist die Geschichte von Josef, seinem Vater Jakob und seinen Brüdern. Wie oft kommt da etwas dazwischen! Da ist der junge Josef mit seinen Träumen: Sie haben Garben gebunden und aufgestellt und die Garben der Brüder verneigten sich vor seiner Garbe. Und dann sind es gar Sonne, Mond und elf Sterne, die sich vor ihm verneigen, vor diesem vom Vater verzogenen Buben da. Kein Wunder, dass die Brüder auf ihn böse werden. Nach Ägypten verkaufen sie ihn. Und da ist dann die Frau des Potiphar, die ihn verführen will, und ihn ins Gefängnis bringt, als er ihr nicht zu Willen ist. Da geht es dann freilich aufwärts mit ihm: Er deutet seinen Mitgefangenen ihre Träume. Und dann lässt ihn gar der Pharao holen, weil ihm niemand sagen kann, was es mit den sieben fetten und mageren Ähren und den sieben fetten und mageren Kühen auf sich hat, von denen er träumte. Dann kommt die große Hungersnot, die seine Brüder nach Ägypten treibt. Immer wieder kommt da etwas dazwischen, kommen Menschen dazwischen. Ein langer Weg ist das, den diese Geschichte erzählt, bis dann am Ende Josef zu seinen Brüdern sagen kann: "Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk' (l. Mose 50,20).

Was jetzt am Tage ist" - so heißt es am Schluss dieser Geschichte. Da konnten sie es schließlich sehen, dass Gott lenkt. Aber das hat lange Zeit gedauert, und sie mussten alle durch Schmerz und Dunkel, die Menschen in dieser Geschichte: Josef selbst, und Jakob, dem sein Liebling genommen wurde, und dann die Brüder. Lange Zeit hat das gedauert. Und ist es bei uns ein Haar anders? Wenn mir etwas dazwischen kommt, werde ich unwillig, begehre auf: Warum? Warum muss mich gerade jetzt diese dumme Krankheit erwischen, wo ich so dringliche Arbeiten vor mir habe? Warum muss mir dieser Unfall passieren? Warum kommt dieser Kerl nicht, auf den ich mich in meiner Gutgläubigkeit verlassen habe? Warum? Warum? Das Herz lässt seine Träume und Pläne nicht so leicht fahren. Aber vielleicht nehmen wir dann im Nachhinein doch wahr: Es ist gut so gegangen. Gott hat gelenkt. Wenn es nach dem Träumen meines Herzens gegangen wäre: Wer weiß, wo es dann hinausgelaufen wäre. Gott sei's gedankt, dass er dazwischen gekommen ist und hat es gut gemacht: "Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg; aber allein der Herr lenkt seinen Schritt".

Wir beten:

Du, mein Gott,

mein Herz kennst du und seine Träume und seine Sehnsucht nach

Glück und Gelingen. Ich danke dir für alles Glück, das du mir

zugewandt hast, auch heute an diesem Tag. Lenke du selbst meine

Schritte, damit ich dir folgen kann und mein Weg nach deinem

Willen fortgeht.

Amen.