5. Sonntag nach d. Erscheinungsfest 7.2.1954 Heimsheim

 

260,1.2.7   Licht das in die Welt gekommen

252,1-3               Wach auf, du Geist

310,1+2     Gott rufet noch

310,6-8     

 

Jes 52,6-10

Apg 16,9-15

 

Liebe Gemeinde!

Vor zwei Jahren hat die griechische Kirche in der ganzen Welt zu einem großen Freudenfest eingeladen, um die 1900-jährige Wiederkehr des Geschehens zu feiern, das uns Lukas hier in der Apostelgeschichte berichtet. Wenn man dies Geschehen rein äußerlich betrachtet, ist es eigentlich gar keine große Sache: Ein kleines Trüpplein von Männern lässt sich von der kleinasiatischen Küste auf das europäische Festland übersetzen. Und doch: Auch wer dem christlichen Glauben gleichgültig oder gar feindlich gegenüber steht, muss zugeben, dass dies Geschehen eine weltgeschichtliche Bedeutung hatte: Hat doch damit der christliche Glaube in Europa Fuß gefasst, der das Abendland entscheidend geprägt hat, so dass man heute gerade von einem christlichen Abendland redet, auch wenn diese Christlichkeit in den letzten Jahrzehnten eine recht fragwürdige Sache geworden ist. Doch immerhin: Das steht als eine unleugbare Tatsache da, auf die uns unser Bericht heute wieder hinweist: Vor 1900 Jahren ist Gottes Wort nach Europa gekommen, getragen durch den Gesandten Gottes, dem großen Apostel Paulus. Und es ist im Laufe der Jahrhunderte bis in den letzten Winkel Europas durchgedrungen, so dass doch jeder von uns zugeben muss: Jawohl, ich kenne dieses Gotteswort, man hat es mir gesagt! Das ist, wie gesagt, eine unleugbare Tatsache. Aber gerade weil das so ist, sind wir heute, wo uns diese Tatsache wieder einmal zum Bewusstsein gebracht wird, durch den Bericht des Lukas aus der Apostelgeschichte, gefragt: Wie stellt du dich zu dieser Tatsache? Wie stellst du dich zu der Entscheidung, die damals gefallen ist, und die doch dich selber ganz unmittelbar angeht? Wie stellst du dich zu dem Gotteswort, das damals seinen Weg auf den europäischen Kontinent gefunden hat?

 

1.

Als erstes lasst uns die Frage stellen: Haben wir Europäer eigentlich Gottes Wort – haben wir den Apostel gerufen – oder brauchen wir den christlichen Glauben im Grunde gar nicht? Liebe Freunde! Das mag euch jetzt als eine recht merkwürdige Frage erscheinen: Ob wir den christlichen Glauben, ob wir Gottes Wort brauchen. Aber es ist noch gar nicht so lange her, dass man gegen die „artfremde“ Religion des Christentums gewettert hat und gar zu gerne sich der heidnischen germanischen Religion zugewendet hätte, wenn man nur genau gewusst hätte, was das für eine Religion war. Nun, diese Zeiten sind vorbei, und heute gilt der christliche Glaube wieder etwas in unserem Staate. Aber die Frage ist doch da: Hast du Gottes Wort gerufen – brauchst du dieses Gotteswort? Den ersten Teil der Frage können wir glatt verneinen – oder nicht? Wir haben Gottes Wort nicht gerufen. Das ging doch ganz anders zu. Freilich, der Apostel Paulus hat in seinem Traumgesicht einen Mann in Mazedonischer Kluft gesehen – einen Europäer also, der ihm zurief: Komm herüber und hilf uns. Aber wir sind das ja nicht gewesen, die den Paulus damals gerufen haben – viel mehr war es doch Gott selber, der den Auftrag an seinen Apostel in der Form dieses Traumgesichtes gegeben hat. So hat es jedenfalls der Apostel Paulus mit seinen Mitarbeitern selber verstanden, als sie sich über die Bedeutung dieses Traumes besannen. Also:  Gerufen haben wir Gottes Wort nicht – und brauchen wir es wirklich? Würde uns nicht eine andere Religion den gleichen Dienst tun können? Denn zu was brauchen wir die Kirche überhaupt? Darf ich’s einmal hart ausdrücken: Den frommen Zauber um Geburt und Schulentlassung, um Eheschließung und Tod, den viele allein noch von der Kirche verlangen, den könnte ihnen ein heidnischer Priester gerade so gut vormachen. Dazu brauchten wir Gottes Wort nicht! Wenn das der einzige Erfolg der Missionsarbeit des Paulus gewesen wäre, dass wir heute bei solchen feierlichen Anlässen den Pfarrer gleichsam als Dekorationsstück mit hinzu ziehen können, dann hätte er lieber mit dem Absatz kehrt gemacht, und wäre statt nach Europa lieber nach Indien oder China gegangen, um dort zu predigen. Haben wir Gottes Wort gerufen – brauchen wir Gottes Wort? So einfach lässt sich diese Frage nun doch nicht beantworten, dass wir sagen: Nun, wir haben den christlichen Glauben zwar nicht gerufen, aber weil er nun eben einmal da ist, wollen wir ihn gebrauchen, wie das eben von unseren Vorvätern Sitte ist. Wie sagte jener Europäer in des Paulus Traum? „Komm herüber und hilf uns!“ Nehmen wir das einmal wirklich ernst! Komm herüber und hilf uns – das heißt doch: Wir sind hilfsbedürftig. Ob wir das selber einsehen, das spielt zuerst einmal gar keine Rolle. Wir sind hilfsbedürftig, jedenfalls nach der Meinung dessen, der den Paulus nach Europa gerufen hat. Wir sind hilfsbedürftig: Das ist die Meinung, die Gott von uns hat. Und darüber können wir denn doch wohl nicht so leichter Hand hinweg gehen. Wir sind hilfsbedürftig, und durch unsere Hilfsbedürftigkeit haben wir Gottes Hilfe gerufen. Das ist eine Entscheidung, an der wir selber gar nicht beteiligt waren, liebe Freunde, und ist doch eine Entscheidung, die uns alle sehr persönlich angeht. Wir haben Gottes Wort gerufen, gerufen durch unsere Hilfsbedürftigkeit, die Gott nicht mehr länger mit ansehen wollte. Darum hat er seinem Gesandten, hat er dem Apostel Paulus in jener denkwürdigen Stunde vor 1900 Jahren den Auftrag gegeben, nach Europa überzusetzen und dort mit der Predigt des Evangeliums zu beginnen. Und damit ist doch auch zugleich unsere zweite Frage beantwortet: Brauchen wir Gottes Wort überhaupt? Jawohl, wir brauchen es, ob wir das nun im Augenblick einsehen oder nicht; das ist eine unabänderliche Tatsache, so sicher wie die Tatsache ist, die uns Lukas berichtet, dass der Apostel Paulus mit seinen Gefährten, unter denen sich der Lukas selber befand, von Kleinasien nach Mazedonien übersetzte, um dort seine Evangelisation zu beginnen!

 

2.

Das mag uns vielleicht gar nichtpassen, was uns da Lukas berichtet: Dass Gott so über uns entschieden hat, dass er bestimmt hat, „ihr seid hilfsbedürftig, also soll euch die Hilfe zuteilwerden, die ihr nötig habt!“ Ist das nicht ein sehr undemokratisches Verfahren, dass die, die dieses Geschehen angeht, gar nicht gefragt werden. Dass einfach über sie bestimmt wird. Sind wir denn nicht freie Menschen, die selber über das entscheiden können, was sie nötig haben, die selber genau wissen, was sie wollen? Weißt du aber wirklich, was du willst, weißt du wirklich, was du nötig hast? Freilich, wenn wir es uns so überlegen: Hilfe könnten wir wohl gebrauchen. Z. Bsp. ein paar Mark extra jeden Monat. Dann wäre es schon leichter durch zu kommen im Leben. Und mit der Frau, mit den Kindern ist es doch oft nicht ganz leicht. Da wäre es schon gut, wenn einer helfen würde, damit endlich wieder die rechte Ordnung im Hause wäre, dass die Kinder auf ihre Eltern hören, dass die ewige Streiterei aufhört. Und mit der Gesundheit, das ist auch so eine schwierige Sache. Es wäre schon besser, wenn man da eine rechte Hilfe hätte, damit das Leiden, das einem doch recht zu schaffen macht, endlich aufhört. Ja, Hilfe könnten wir schon gebrauchen, denn das Leben ist doch keine so ganz einfache Sache, und oft ist es recht schwierig, da durchzukommen. Wenn wir das mit unserer Hilfsbedürftigkeit uns recht überlegen – es ist doch etwas dran. Wir haben schon Hilfe nötig, in verschiedenster Hinsicht. Und wir wollten gerne annehmen, dass uns da geholfen wird. Wenn Gottes Wort uns da helfen könnte?

Liebe Freunde! Ich habe oft genug bei mir selber und bei anderen die Erfahrung gemacht, dass wir Menschen doch einen schrecklich beschränkten Horizont haben! Kaum, dass wir hinaus sehen über die nächsten Wochen und Monate. Kaum dass wir hinaus sehen über unseren engsten Lebenskreis, die Familie, die Arbeitsstelle, die Heimatgemeinde. Wissen wir wirklich, was wir nötig haben, wissen wir wirklich, wo wir Hilfe brauchen? Nein, wir wissen es nicht! Und wenn wir es wirklich wissen sollten, dann muss wohl bei uns genau das geschehen, was bei der Lydia geschehen ist, die unter den ersten europäischen Zuhörern des Paulus war. Von der heißt es: Dieser tat der Herr das Herz auf! Wenn uns Gott das Herz auftut, wenn er uns die Augen öffnet, dann sehen wir, dass wir wirklich hilfsbedürftig sind, ganz und gar, hilfsbedürftig, auch wenn wir kerngesund sind, wenn wir das beste Auskommen haben, wenn es so aussieht, als ob uns alle Wege zum Erfolg in diesem Leben geebnet sind. Dann erkennen wir, dass wir verloren und verkauft sind, verloren an Tod und Teufel, an Sünde und Verderben, verloren und verkauft, wenn wir nicht einen Helfer haben, der stärker ist! Diesen Helfer haben wir nötig, und wenn wir den haben, dann ist alle andere Hilfe, die wir vielleicht sonst noch nötig haben, von zweit- und drittrangiger Bedeutung. Ja, Herr, tu uns die Herzen auf, dass wir erkennen, wo wir wirklich Hilfe nötig haben.

 

3.

Dann aber, liebe Freunde, wird uns wirklich klar, wozu wir Gottes Wort brauchen, warum es so wichtig und entscheidend gewesen ist, dass Paulus gerade nach Europa kam, gerade auf unseren Kontinent kam. Nicht darum, dass wir nun eine christliche Kultur haben, auf die wir stolz sind. Nicht darum, das wir nun eine Kirche in unserer Stadt haben. Nicht darum, dass nun bei den verschiedenen Familienfeierlichkeiten, bei Taufe und Konfirmation und Eheschließung und Begräbnis ein Mann im schwarzen Talar dabei ist, der schöne Worte zu machen versteht, dass es einem so feierlich zumute wird. Wenn das meine Aufgabe wäre, dann würde ich gescheiter heute als morgen meinen Talar an den Nagel hängen! Nein! Nicht darauf kommt es an, wenn wir wirklich unsere Hilfsbedürftigkeit erkannt haben. Sondern dann geht es uns heute genauso wie der Lydia vor 1900 Jahren; dieser tut der Herr das Herz auf, dass sie darauf Acht hatte, was von Paulus geredet ward. Es steht gar nicht da, was der Paulus geredet hat: Aber ganz sicher war es nichts anderes als das, was Paulus immer und überall gesagt hat: Die frohe Botschaft von Jesus Christus, der durch seinen Kreuzestod für uns Tod und Teufel, Sünde und Verderben überwunden hat! Diesen Jesus Christus brauchen wir, liebe Freunde! Denn der allein kann uns helfen. Hast du das erkannt? Siehst du, wie es mit dir steht? Dass du seine  Hilfe brauchst, nötiger als alles andere, das wir uns denken können?

Sie wird uns angeboten, diese Hilfe, wird uns in Europa angeboten seit 1900 Jahren, seit der Apostel Paulus seinen Fuß auf europäischen Boden setzte. Doch nun ist es wirklich an uns, die Entscheidung zu treffen. Amen.