Sonntag nach dem Christfest 31.12.1961 Wolfenhausen / Nellingsheim

 

29,1-5        Kommt und lasst uns (156)

17,1-6        Vom Himmel kam (236)

31,2+3       Wunderbarer Gnadenthron (31)

18,5            Der Tag, der ist so (45)

 

Lk 2,21-24.36-40

Gal 4,1-7

 

Liebe Gemeinde!

Man muss! Ich glaube, dass wir mit diesen beiden Worten am besten das ausdrücken können, was Paulus meint, wenn er von den Elementen der Welt redet. Man muss! Man muss beispielsweise arbeiten und verdienen, man muss sich etwas anschaffen und vorwärts kommen, man muss ein anständiges Leben führen, man muss ein guter Kamerad sein, der auch einmal einen Spaß versteht. Man muss seine Steuern zahlen, und man muss sich an die Gesetze des Staates halten, man muss eine Kinder taufen lassen und muss sich hin und wieder einmal in der Kirche zeigen. Man muss dem, der krank ist, seine Teilnahme zeigen, man muss sich hüten, etwas zu tun, was sich nicht gehört. Man muss – man muss – ich könnte endlos fortfahren mit dem, was man alles muss. Wir sind doch von allen Seiten umgeben mit solchen Aufforderungen. Man muss! Man muss! Jawohl – man muss. Und es steht hinter diesen Forderungen die da an uns ergehen, gar nicht immer der Staat mit seiner Macht, der uns verwehrt, etwas anderes zu tun, als das, was man muss! Es steht dahinter die viel nähere und viel stärkere Macht der Meinung, die sich andere bilden über uns. Es sind viele Aufpasser da, welche dafür sorgen, dass jeder von uns möglichst drin bleibe in der Ordnung dessen, was man tun muss. Wenn sich einer daran hält, wenn er sich dem fügt, so wird er es zu etwas bringen. Man wird ihn ehren und achten, er wird anderen ein Vorbild sein, er wird seinen rechten Platz einnehmen in unserer Ordnung. So ist das nun einmal. Und wer sich nicht fügt – der soll sehen, wo er bleibt. Man wird ihn ausstoßen, der gilt nichts, sein Wort hat kein Gewicht, er wird vielleicht Spott ernten und Hohn, oder Abweisung und Verachtung – weil er sich nicht an das hält, was man muss – sagen wir es einmal mit den Worten des Apostels Paulus: Weil er ihnen nicht dient, den Elementen der Welt!

 

Seht – liebe Freunde! Schätzen wir das doch ja nicht gering ein – dieses: Man muss! Diese gewaltige Macht der Ordnung, der Sitte, des Gesetzes – welche uns leitet, uns anleitet zum rechten Handeln. Schätzen wir sie ja nicht gering ein, diese Macht des Man muss! Was wäre das für eine grausige Welt, wenn es das nicht gäbe? Was wäre das für eine wirre und chaotische, für eine tödlich verderbte Menschheit, welche nicht geordnet wäre durch diese selbstverständliche Macht dessen, was man tun muss, und dessen, was man nicht tun darf. Wüssten wir‘s denn, was wir zu tun haben, wenn uns nicht das feste Geleise des vorgezeichneten Lebensvollzuges leiten würde, dass wir wissen: Das muss ich tun in meinem Beruf, das muss ich tun in der Ehe, das muss ich tun, um meinen Pflichten gegen Staat und Gesellschaft nach zu kommen. Würden wir überhaupt fertig werden mit unserem Leben, wenn es das nicht gäbe, diese festen, vorgezeichneten Bahnen dessen, was man tun muss, und dessen, was man nicht tun darf? Darum sage ich: Schätzen wir das ja nicht gering, dieses: Man muss. Von Gott kommt es – Paulus sagt das mit einem Bild: Wie ein Unmündiger Vormund und Vermögensverwalter braucht, so braucht der Mensch diese Mächte der Sitte, der Gewohnheit, der Ordnung und des Gesetzes, damit sie nicht in Verwirrung und zerstörendem Gegeneinander untergeht, diese Welt, sondern damit sie bestehen kann, und weiter gehen kann.

 

Freilich: Der Apostel mein ja nun so: Das ist kein endgültiger, das ist nicht der richtige, der gottgewollte Zustand des Menschen, dass er unter dieser Herrschaft des Gewohnten und Hergebrachten und allgemein Anerkannten steht. Nicht für diesen Zustand des Unmündig-Seins hat ihn Gott geschaffen. Vielmehr: Er soll mündig werden, der Mensch. Darum: „Als die Zeit erfüllet war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einem Weibe und unter das Gesetz getan, auf dass er die, so unter dem Gesetz waren, erlöste, auf dass wir die Kindschaft empfingen.“ Das ist also vorbei – so behauptet der Apostel, das ist also vorbei, diese Herrschaft dessen, was man muss. Wir wollen zunächst so fragen: Warum darf die eigentlich nicht dauern, diese Herrschaft? Ist die nicht richtig? Ist die nicht gut? Habe ich nicht recht gehabt, als ich sie vorhin lobte, diese Herrschaft, als ich sagte, dass wir alle miteinander verloren und verraten und verkauft wären, wenn es die nicht gäbe, diese Gewohnheit, dass Hergebrachte, die Ordnung, das Gesetz? Warum durfte das nach Gottes Willen nicht dauern? Seht, das ist nicht ganz einfach zu verstehen. Ich will es einmal so sagen: Dieses, was man muss, das verstellt uns die Aussicht. Verstellt uns die Aussicht auf Gott, und verstellt uns die Aussicht auf unsere Mitmenschen. Verstellt uns die Aussicht auf Gott, dass wir meinen: Ich halte mich an das, was man muss. Das ist recht. Das gefällt Gott. Das ist sein Wille. Und begreifen dann plötzlich nicht mehr, dass Gott doch viel, viel mehr ist, als jenes starre, jenes feste, das, was man eben tun muss. Dass Gott viel, viel mehr ist, dass er ein Lebendiger ist, und ein Schaffender, dass er ein Unbegreiflicher ist, dessen Wille nicht in ein paar Regeln dessen, was man muss, eingefangen werden kann. – So verstellt uns dieses „Man muss“ die freie Aussicht auf Gott. Und verstellt uns die freie Aussicht auf unsere Mitmenschen. Denn es macht uns, uns selber, ja zu seinen Aufpassern und Dienern. Dass wir fragen: Tut der auch richtig, was man muss? Und wir flüstern‘s einander zu, oder sagen es laut und vernehmlich, da und da, da hat er danebengegriffen. Pfui! Was für einer ist das! Seht: Darum war es notwendig, dass jene Macht dessen, was man muss, außer Kraft gesetzt werde, weil sie uns die Aussicht verstellte, auf Gott und auf unseren Mitmenschen. Und weil es notwendig war, jene Vormünder und Verwalter, wie Paulus sagt, außer Amtes zu setzen, und den Menschen ihre Freiheit wieder zu geben, darum hat es Gott ja auch getan. Freilich auf seine, auf die göttliche und darum wirksamste Weise. Nicht so, dass diese Macht dessen, was man muss, einfach über den Haufen geworfen wäre, sondern so, dass einer kam, genau so einer wie wir.  „Geboren von einem Weibe und unter das Gesetz getan“ sagt der Apostel. Einer also, der sie auch kannte und spürte, jene Macht dessen, was man muss, jene Macht, welche die Menschen trennt, und macht sie zu Aufpassern, ob einer auch wirklich das tut, was man muss. Er hat’s nicht gelten lassen, hat dieser Macht widerstanden; hat sich eingelassen mit denen, welche draußen waren, weil sie anders lebten, als man das tun muss, mit den Zöllnern und mit den Huren. Das war er, der sagte: Gott ist anders. Er will mit allen zu tun haben, sie sind doch alle seine Kinder, die tun, was man muss, und die anderen auch! Da wehrte sich jene Macht – durch die Menschen, die ihr dienten, und man hat ihn getötet, er musste sterben, weil er nicht bereit war, so zu leben, wie man das muss, und das gelten zu lassen, was man muss. Und hat gerade damit die Erlösung geschaffen. Hat die verstellte Aussicht wieder frei geräumt, die Aussicht auf Gott, dessen Wirken und Wille sich nicht in die starren Regeln dessen, was geschehen muss, und was man tun muss, einfangen lässt – und die Aussicht auf den Menschen, der mehr ist als einfach einer, der tut, was man muss, und den zu beurteilen es nicht genügt, einfach zu fragen: Tut er was man muss – oder tut er es nicht?

 

Das ist geschehen, sagt uns der Apostel Paulus. Die Zeit jener Unmündigkeit ist vorbei, wo nur das gegolten hat, was man muss. Ist sie das wirklich? Gilt das nicht weiter? Haben sie nicht genau so Macht, heute wie eh und je, jene Elemente der Welt? Ja, müssen sie nicht Macht haben, damit diese Welt erhalten werde? Liebe Freunde: Die Antwort darauf, die kann bloß der Glaube geben. Der Glaube, der begriffen hat, was jene Sendung des Sohnes bedeutet. Der Glaube, der Gott sieht und seinen Mitmenschen. Der Glaube, der nicht gebunden ist an das, was man muss, sondern der tut, was die Liebe gebietet. Da ist etwas anders, da ist etwas neu. Da heißt es: Abba, lieber Vater! Amen.