1. Advent, 29.November 1959 Wolfenhausen / Nellingsheim

 

401,1-6 Hosianna Davids Sohn (172)

1,1-5 Nun komm der Heiden (184)

10,6.7        Wie soll ich dich (233)

9,4    Ach mach du mich Armen (237)

Jes 40,1-5

Hebr 10,19-25

 

Liebe Gemeinde,

es sind seltsam dunkle und schwer verständliche Worte, die ich euch heute am Adventsfest auszulegen habe: „Weil wir denn nun, liebe Brüder, durch das Blut Jesu die Freiheit haben zum Eingang in das Heilige, welchen er uns bereitet hat als neuen und lebendigen Weg durch den Vorhang, das ist: durch sein Fleisch, und haben einen Hohenpriester über das Haus Gottes: So lasst uns hinzu gehen mit wahrhaftigem Herzen in völligem Glauben... „ Es sind dunkle und schwer verständliche Worte; vielleicht kommen wir ihrem Sinn dann am ehesten näher, wenn wir zunächst einmal einfach auf die Mahnung achten, die da ausgesprochen ist: „Lasset uns hinzu gehen.“ Da wird eine Bewegung beschrieben, die wir machen sollen – und als Ziel dieser Bewegung, da ist genannt: „das Heilige“ – oder, wie wir vielleicht besser sagen: Der Ort der Wohnung Gottes, der Ort, wo Gott zu finden ist. Dahin will uns der Hebräerbrief den Weg zeigen, und er will uns ja nicht nur den Weg zeigen, sondern er will uns zugleich auffordern, diesen Weg nun auch zu gehen – den Weg dahin, wo wir Gott zu finden vermögen.

Dazu also wollen uns jene dunklen Worte auffordern, dass wir den Weg dorthin gehen, wo Gott zu finden ist. Vielleicht, dass der Eine oder Andere sich wundert, so wie ich mich gewundert habe, dass über diese Worte ausgerechnet am Adventsfest zu predigen ist, an dem Fest, das uns, seiner ganzen kirchlichen Tradition nach, daran erinnern sollte, dass Gott sich zu uns auf den Weg gemacht hat; dass er, Gott, zu uns Menschen kommt! Aber vielleicht ist es nicht einmal so sehr wichtig, in welcher Richtung jene Bewegung beschrieben wird: Ob so, wie das der Name dieses Festes, Advent, sagt, dass Gott auf dem Wege ist, auf uns Menschen zu, dass er kommt, oder umgekehrt, so, wie das unser Predigttext macht, dass wir Menschen auf Gott zugehen, dass wir den Weg zu seiner heiligen Wohnung suchen. Ich sage: Vielleicht macht es gar keinen so großen Unterschied, ob wir diese Bewegung so der so beschreiben und erfassen. Vielmehr wird es darauf ankommen, dass diese Bewegung wirklich ihr Ziel erreicht. Dass wir Gott finden, dass Gott uns findet. Dass Gott uns findet, dass wir Gott finden, dazu soll uns die Betrachtung dieser Worte aus dem Hebräerbrief ein wenig weiter helfen.

Freilich, da mag es nun geschehen, dass wir uns gleich an den ersten Worten stoßen. Dass wir fragen: Was ist denn nun gemeint, wenn es heißt, dass wir durch das Blut Jesu die Freiheit haben zum Eingang in das Heilige? Was ist wohl damit gemeint? Die Juden, an die sich unser Brief richtet, die wussten wohl sehr genau Bescheid. Die wussten: Dieses Heilige, das ist der innerste Raum des Tempels. Dort wohnt Gott. Dort lässt er seine Gegenwart erspüren. Dort hinein darf einmal in jedem Jahr der Hohepriester gehen, um am Großen Versöhnungstag das Opferblut vor Gott aus zu schütten, um die Sünden des ganzen Volkes zu versöhnen. Doch, liebe Freunde, was ist uns schon geholfen damit, wenn wir das wissen, dass dieses Heilige einmal für die Juden ein ganz bestimmter, fest umgrenzter Raum gewesen ist, denn wir wissen doch wohl, dass Gott nicht in solchem Raum wohnt, er, den aller Himmel Himmel nicht zu fassen vermögen!

Seht, da vermag uns dieser Text nun noch einmal weiter zu helfen, wenn er redet von dem neuen und lebendigen Weg, den uns Jesus bereitet hat, durch sein Blut, durch seinen Kreuzestod. Denn damit ist uns gezeigt: Nicht dort, wo die Juden Gott besonders nahe zu haben glaubten in einem besonderen Gotteshaus, und noch einmal in der besonderen innersten Kammer dieses Gotteshauses, nicht dort ist Gott zu finden. Vielmehr, wenn wir zu ihm gelangen wollen, wenn wir ihm begegnen wollen, dann müssen wir den Weg gehen, den Jesus gegangen ist. Den Weg, der nun gerade nicht an einen besonderen, heiligen Ort führt, der dem unheiligen Getriebe der Welt entnommen ist; wo es feierlich ist und still, wo die Sorgen und Nöte des Alltags schweigen; wo man sich der Ruhe und Stille hin zu geben vermag. Nein! Nicht dorthin hat Jesu Weg geführt. Der ging ganz anders. Da war der Staub und die Sonnenglut auf den Straßen Jerusalems. Da waren die Kriegsknechte, die ihn vorwärts zerrten. Da war das Kreuz auf seinen Schultern, das ihn zu Boden drückte. Da war die Hinrichtungsstätte, Golgatha, der Galgenberg, wo man ihn ans Kreuz gehängt hat, zwischen die Anderen, die Verbrecher, und jedermann konnte zusehen, jedermann konnte sich über Jesus lustig machen, ihn verspotten. Den neugierigen, den teilnahmslosen, den schadenfrohen Blicken war er ausgesetzt, die sein qualvolles Sterben anstarrten. So war sein Weg – hinein ins Heilige.  So ist er zu Gott gekommen – ist Gott zu ihm gekommen. Dort, gerade dort, wo er so gestorben ist, da hat er, Jesus, Gottes Gegenwart gefunden.

Und damit hat er uns den Weg zu Gott eröffnet. Hat er es uns gezeigt, wie wir zu Gott kommen, wie Gott zu uns kommt, wie wir Gottes Gegenwart begegnen.

Wir, die wir Jesus kennen, die wir seinen Weg vor Augen haben, wir brauchen nicht mehr zu fragen, wo denn dies Heilige sei, wo denn Gott wohne. Wir wissen: Jesus ist auf dem Weg zu ihm gewesen, als er durch Jerusalems Straßen getrieben wurde. Als er am Kreuz hing vor den Toren dieser Stadt! Gott ist ausgezogen aus dem Tempel, den er einmal für eine Zeit im Alten Bund bewohnt hatte. Gott ist ausgezogen, den Menschen entgegen. Er kommt zu uns, wenn wir ihn nur zu sehen vermögen. Er kommt zu uns, kommt auf uns zu in dem, was uns widerfährt! Seht – da ist das Heilige, das Jesus uns gewiesen hat, das er uns gewiesen hat mit seinem Wort und Werk: Dass wir Gott finden in dem, was uns widerfährt. Dass er auf uns zukommt, in seiner alles umfassenden Wirklichkeit, heute, morgen, jeden Tag. Auf uns zu kommt, in den Menschen, denen wir begegnen, auf uns zukommt, in dem Schicksal, das uns widerfährt. Liebe Freunde! Das weist uns der neue Weg, den Jesus aufgeschlossen hat, dass wir merken, wo das Heilige zu finden ist, wo Gott uns entgegen kommt, in seiner ganzen, unerschöpflichen Fülle, mit der er unser Leben bewegt, durch Freude und Leid, durch Schmerz und Lust, durch Kummer und Trost: Da kommt uns Gott entgegen in seiner Fülle, in seinem Reichtum. Der Weg ist offen in das Heilige, der weg ist offen hin zu Gottes Gegenwart, so sagt unser Text. Wir könnten es freilich genauso gut umgekehrt sagen: Er, der Heilige selber, er, der unerschöpfliche, der reiche Gott, er kommt auf uns zu. Das ist die Adventsbotschaft dieser Worte des Hebräerbriefes.

Aber darüber dürfen wir das Andere ja nicht vergessen, ja nicht übersehen: Um eine klare, eindeutige Aufforderung an uns geht es dabei: Lasset uns hinzu treten!  Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass wir Gott begegnen. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass dies Leben uns zum Heile ausschlägt, dies Leben, in dem der Heilige, in dem Gottes unerschöpfliche Fülle uns entgegen kommt. Es kann sein, dass wir blind sind. Dass wir ihn nicht finden. Dass wir ihm nicht entgegen kommen. Darum die Aufforderung, die wir bitter notwendig haben: Lasset uns hinzu gehen! Die Aufforderung: Der Weg ist frei – jetzt geht auch auf ihm!

Vielleicht begreifen wir am ehesten, warum wir diese Aufforderung so nötig haben, wenn wir nun noch einmal eines der Rätselworte unseres Texte näher ins Auge fassen, jenes so seltsame Wort „... welchen er uns bereitet hat als neuen und lebendigen Weg durch den Vorhang, das ist durch sein Fleisch.“ Das Bild, welches da gebraucht wird, das Bild vom Vorhang, ist wieder von der Beschaffenheit des Jerusalemer Tempels abgelesen: Gemeint ist jener Vorhang, welcher im innersten Raum des Tempels zwischen dem Heiligen und dem Allerheiligsten herab hing. Um so den Thronsitz Gottes vor jedem zudringlichen Blick zu verhüllen. So, liebe Freunde, ist Gott verhüllt, unseren Blicken, unseren Sinnen verhüllt. Wir können seine Ankunft, jenes tägliche und stündliche Kommen, in welchem er uns begegnet, nicht betasten und begreifen! Es ist verhüllt durch unser Fleisch: Ich könnte sagen durch unsere Geschöpflichkeit, durch unsere Begrenztheit und Endlichkeit, die eben nur wieder Geschaffenes und Begrenztes und Endliches zu erfassen vermag, aber nicht den Unendlichen, den Ungeschaffenen, den grenzenlosen Gott! So ist Gottes Kommen uns verhüllt. Freilich: Nicht darauf kommt es an, dass wir das begreifen. Das ist eigentlich eine _Selbstverständlichkeit. Vielmehr: Das will uns der Hebräerbrief zeigen, dass es den Weg gibt durch diese Hülle: Das ist Jesus, sein Fleisch, seine Menschlichkeit! Da lasst uns nun wirklich schauen und staunen. Da lasst uns unsere Sinne, unsere Augen und Ohren und unsere ganze Einbildungskraft anstrengen, dass wir das begreifen! Dass wir ihn wirklich sehen, Jesus. Das wir ihn wirklich verstehen, sein Wort und sein Werk, alles, was er getan und erlitten hat. Denn dort, wo dieses Fleisch Jesu, sein menschliches, sein irdisches Leben am Kreuz zu Ende geht, da kommt er zu Gott! Da kommt jenes Gegeneinander endlich zu seiner Ruhe – der Weg, den er gegangen ist, der Weg seines Menschenlebens, und Gottes Kommen, das ein verhülltes Kommen ist, solange dieses Leben dauert!

Dort, wo dies Leben Jesu zu Ende geht, da ist Gottes Gegenwart unverhüllt, da geht unser Heiland ein in die ganze, ewige, unverhüllte Wirklichkeit Gottes.

Seht – da ist der Weg, der uns vorgezeichnet ist: Ein Weg, der dauert, solange dieses Leben währt, ein Weg des Glaubens: Denn er geht auf den unsichtbaren Gott zu: „So lasset uns hinzu gehen mit wahrhaftigem Herzen in völligem Glauben.“ Ein Weg der Hoffnung: Denn wir wissen, dass am Ende dieses Weges auch auf uns jene göttliche Ruhe wartet, in die Jesus eingegangen ist: „So lasset uns halten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken.“ Und ein Weg der Liebe. Denn wir sollen ja nicht allein, jeder für sich, diesen Weg suchen. Vielmehr: „Lasset uns aufeinander Acht haben, uns anzureizen zur Liebe und guten Werken, und nicht verlassen unsere Versammlung.“

Dies beides sollen wir beachten: Wie Gott auf uns zukommt in der Wirklichkeit unserer Welt, unseres Lebens. Und wie wir ihm entgegen gehen, in Glauben, Hoffnung, Liebe bis der Tag,  der verheißene Tag der Ruhe kommt, da auch für uns der Vorhang des Fleisches fällt und wir uns hinein senken in seine unerschöpfliche göttliche Fülle. Amen.